Die Nacht derBekenntnisse

Verfasst am: 26. November 2012 von Barbara Keine Kommentare

Confesseo Sanguedoana Publicana

Dieser lateinisch konstruierte Titel scheint am besten meine Eindrücke vom großen Chor-Konzert in Sanguedo einzufangen, auf dem so manches öffentlich bekannt wurde und bekannt gemacht wurde. Lassen Sie einen portugiesischen Mann einmal nahe an ein Mikrofon heran (z. B. wenn das Fernsehen da ist und um statements der Umstehenden bittet), dann werden Sie sehen, was passiert: Ein selbstbewusster portugiesischer Redeschwall ergießt sich über den Zuhörer, eine wortreiche Rede, der man sich nur mit Mühe wieder entziehen kann, um Luft zu holen. Und wenn dann dieses Mikrofon noch auf einer Bühne steht, gibt es kaum eine Pause oder gar kein Ende für die großartigen Reden. Jeder Portugiese ist demagogisch außerordentlich begabt oder glaubt es wenigstens zu sein. Tatsächlich können sie ja auch alle im Gegensatz zu mir fließend Portugiesisch, wenn auch sehr genuschelt und ohne sprachliche Verführungskünste – temos, temos, temos, temos – wir haben einen Bürgermeister, 3 Schulen, 5 Kirchen und dies und das und 3.400, na, sagen wir 4.000 Einwohner undsoundsoviele km² Waldfeldumland. Und wir sind die Größten, Schönsten und Besten und feiern jedes Jahr das Große Chorfest mit allen Chören der Umgebung und repräsentieren die Portugiesische Kultur und Musik und Tradition und hinterher gibt es ein großes Freundschaftsessen.

(Von den Frauen, die genau so viel sprechen und reden können, habe ich ja an anderer Stelle schon berichtet. Ich beschränke mich seit Jahren aufs Zuhören, denn die Chance für einen Dialog ergibt sich fast nie. Die Frauen treten hier auch nicht so häufig in der Öffentlichkeit, aber wenn doch, dann gibt es kaum einen Unterschied. Sie brauchen allerdings kein Mikrofon, sie brauchen nur jemand, der nickt und hin und wieder “É verdade, ai Jesus, que linda, coitadinho!” sagt. Aber im Unterschied zu den eloquenten Männern, die meistens nur und ausschließlich reden, sind die Frauen sehr fleißig und wischen, putzen, kochen und arbeiten während ihrer Erklärungen, d.h. sie machen Bewegungen, die nach Wischen, Putzen und Arbeiten aussehen, – sozusagen um die Rede zu unterstreichen, wird mit dem Handtuch über die Tischplatte gewischt, und danach geht man mit vielen Floskeln, wie eilig man es habe und dass man gar keine Zeit für lange Gespräche habe, voll Bravour zu seiner Tätigkeit zurück und schrubbt und kocht oder pellt Bohnen aus, dass die Fetzen nur so fliegen.)

Also, zurück zur Nacht der Bekenntnisse.
Wie kommt unser Orfeão de Vagos überhaupt nach Sanguedo, wo immer das auch liegt? Also, natürlich mit dem Bus, auf der Autobahn nach Porto, da, wo es nach Arouca geht, biegt man ab.
Und wir hatten eine Einladung.
Und wir haben Beziehungen!

Nun auf denn, auf nach Sanguedo, dessen Heimatlied im Walzertakt wir schon eingeübt und gesungen hatten. Bei Dunkelheit quälte sich der riesige Bus mit 25 Sängern und dazu 35 Freunden und Gästen bergauf und bergab durch die engen Gassen in dem Städtchen, das in den Bergen bei den sieben Zwergen liegt. Aber ein prächtiges “Haus für die Jugend” haben sie gebaut mit Kindergarten, Gymnastik- und Fitnessräumen, Tischtennissaal, Computer-Lehrsaal, Aula und Bühne, Küche und Speisesaal und allen anderen Möglichkeiten, da wird man als armer westdeutscher Bürger ganz traurig oder gar ein bisschen neidisch.

Nach unserer Ankunft gab es erst einmal (wie immer) viel Konfusion, ein heilloses Durcheinander, niemand wusste Bescheid, da waren keine Organisation, keine Begrüßung, kein warmer Tee, keine Toiletten.

Aber ein wunderschönes rothaariges schlankes Mädchen in einem langen Kleid mit Rückendekolleté huschte herum und suchte unseren Maestro und sagte, sie sei aus Sanguedo und seine Freundin. Ach, das war ja die traurige Gothic aus Figueira da Foz! Sie war gar nicht mehr traurig, sondern glücklich und rothaarig und der Grund für unsere Einladung und eben “die Beziehung” nach Sanguedo!

Nach 1 Stunde Wirrwarr hieß es: ” Alle Chorsänger treffen sich im Rathaussaal”. Nun marschierten die 200 Sänger 1 km durch die Straßen und über die Plätze an duftenden Cafeterias und Konditoreien vorbei und versammelten sich bei der Ortsverwaltung in einem würdigen Saal, auf dessen Bühne 4 große Flaggen (auch die europäische) flatterten. Und dann kamen die endlosen Reden – siehe oben: Was wir alles haben und wer wir sind und dass Sanguedo der Nabel der Welt ist. Danach durften alle wieder zurückgehen … durch die Straßen und über die Plätze an duftenden Cafeterias und Konditoreien vorbei…

Es vergingen noch Stunden bis zum Einüben und bis zum Auftritt des ersten Chores, denn vorher wurde jedes Mal die Geschichte des Chores und die Biografie des Chorleiters verlesen…, lauter klingende Titel und Hochschulen und Erfolge über Erfolge… Und dann kamen endlich wir an die Reihe und stürmten nach Alirios Auftritt (er sollte nach 1 Liter Geropiga vielleicht besser Delirio heißen) auf die Bühne und brannten da unser Feuerwerk ab mit noch ungewöhnlicherem Tempo als sonst und mitreißendem Schwung – kein Wunder, denn der Maestro schwebte im 7. Himmel der Liebe zu einem Mädchen aus Sanguedo!

Jetzt der minutiös geprobte Auftritt, bis ins Detail geplant und durchexerziert, – der “Carteira! Hey, Carteira!” rief jeden Sänger und jede Sängerin aus Vagos persönlich auf und übergab einen Liebesbrief, der Maestro aber ging von der Bühne hinunter und brachte seiner Liebsten seinen Brief und wir sangen Elvis Presleys Liebesschnulze.
Unter dem hübschen Sonnenschirm lustwandelte das Liebespaar durchs Publikum, alle klatschten und waren begeistert und warteten auf den Kuss, während sich das Liebespaar auf der Bühne lange – viel zu lange – innig in die Augen sah. “Beijo!”, rief einer aus dem Publikum, der die Spannung nicht mehr ertragen konnte. Beijo, beijo. Na, endlich… Elvis perlte dahin und alle schmolzen weg. Der aufgelöste Kuss-Stau brachte den Bürgermeister und Moderator auf tolle Ideen und eine wahre Lawine ins Rollen…

Aber dann kam der Höhepunkt: Nach dem ABBA-Song “The dancing queen, young and sweet, only seventeen, oh yeah” wurde unser Lied vom “Mädchen aus Ipanema” vom Maestro angekündigt als Bekenntnis seiner Liebe für das schönste Mädchen von Sanguedo, eine Huldigung für seine Liebste namens Marta. Das Publikum wurde geradezu vom Liebesrausch erfasst und weggespült, und wir sangen und tanzten voller Begeisterung.
Eigentlich hatte danach niemand mehr eine Chance, denn ein solches Bekenntnis zu Sanguedo und ein solches Geständnis wie diese Liebeserklärung konnte doch nun wirklich keiner mehr überbieten und toppen. Auffallend war nämlich bei der ganzen Veranstaltung, dass das Durchschnittsalter der Mitglieder und Mitgliederinnen mindestens bei 60 war. Da konnte echt keiner mithalten.

Aber leider war da ja noch ein Chor, es lebe die Gerechtigkeit! – also nach dem Auftritt des letzten dritten Chores aus Ovar, bei dem keiner mehr so richtig hinhörte, hatten sich die Stimmung und vor allem die Reden der Verantwortlichen total geändert, denn es wurde nur noch geküsst und umarmt – die Dichterin des Heimatliedes wurde geküsst, die Frau des Bürgermeisters, die Organisatorin in der Küche, der Meisterdirigent von Sanguedo küsste seine Frau und jeden, der ihm in die Arme lief, ach, es war ein Abend der Liebeserklärungen und Geständnisse und Bekenntnisse zu wem und zu was auch immer…

Und alle waren high,
obwohl das Beste ja noch kam:
Ein riesiges Festessen im Speisesaal an gedeckten Tischen, um 23 Uhr nachts:
Zuerst ein Schälchen warme Suppe,
dann die Entradas in lieblichen Schalen auf den Tischen,
dann das Menü mit Braten, Reis, Kartoffeln, Salat,
danach die herrlichsten Sobremesas, hausgemacht und mit viel Liebe,
dazu Wein und Saft,
dann die Jubiläumstorte mit Kerzen und Gesang,
dazu Sekt,
dann stiegen die Dirigenten und die Soprane und andere Sänger (Bass, besser, am besten) auf die Tische und ließen die Gläser und Gäste und die Musik und Sanguedo Hoch leben… “hoch und hoch und hoch!”
Dazwischen das glückliche Paar, schmausend und küssend und die berauschten Chorsänger schmausend, singend und glücklich…

Oh yeah!

Also, das Leben in Portugal ist schön, ich kann mir nicht helfen!

Eine Antwort verfassen