Der Rattenfänger von Santa Catarina

Verfasst am: 30. Juli 2012 von Barbara Keine Kommentare

Der Rattenfänger von Santa Catarina

Mit zwei geschmeidigen Sprüngen durchquerte er den riesigen, fast leeren Saal und sprang wie ein Panther in einem einzigen Satz auf die Bühne: Der Maestro des Chores von Vagos.
Ein junger Mann mit wilden schwarzen Haaren, schwarzen lebhaften Augen, schwarzen Bartstoppeln, langen schwarzen Jeansbeinen, grünen Turnschuhen.
Ein Panther.
Ein Panthersprung.
Er hatte die Akustik überprüft und regelte jetzt an seinem Keyboard die Lautstärke. Es war eine gewaltige Lautstärke, die in diesem kahlen Raum dazu noch doppelt so stark widerhallte.
Dieser Saal war das Elendste, was man sich als Konzertsaal vorstellen kann. Wir waren wirklich geschockt, als wir diesen erbärmlichen Ort vorfanden, wo wir als “Orfeão Vagos” singen sollten.

Der Auftritt war für Santa Catarina zum Patronatsfest um 22:00 Uhr festgesetzt.
Für die Heilige Katharina von Alexandrien mit Schwert und Rad.
So steht sie in der Dorfkirche, auf die die festlich gestimmten Sänger und frisch frisierten Sängerinnen zustrebten. Auf dem Programm standen als eingeübte Lieder „Dancing Queen“ von ABBA und „Das Mädchen von Ipanema“. Wir hatten uns mit einer solchen Darbietungsfolge schon angefreundet, nachdem wir uns klar gemacht hatten, dass es durchaus möglich ist, für die Heilige Katharina „You are the dancing Queen“ zu singen, da man in lutherischen Kirchen für den HERRN mitunter ja auch den „Lord of the dance“ singt.
Nun aber sagte die Sakristansfrau, die vor das Kirchenportal trat, dass das Konzert im benachbarten Gemeindehaus stattfinde.
„Was?“
„In dem Gefängnistrakt da?“

Da steht tatsächlich ein zweistöckiger, verwahrloster Kasten mit vergitterten Fenstern, total verkommen und ungepflegt, der an die Gebäude in Konzentrationslagern erinnert.
Da sollten wir singen?
Ai tristeza!
Ai Santa Catarina!

Wir gingen die angeschlagenen Steinstufen hinauf und betraten die herunter gewirtschaftete Halle. Zerfetzte Jalousien hingen windschief in den Fenstern, an einem Nagel baumelte eine Glühbirne, ungehobelte Bretter bedeckten den Boden, darauf ein paar Bänke, die bei der ersten Berührung zusammenkrachten, kahle nackte Wände. Hier hatte vor 30 Jahren vielleicht einmal ein Viehmarkt stattgefunden. Auf der ein Meter hohen Bühne standen zwei Stufen für den Chor. Ein ehemals vielleicht rostroter Vorhang hing an den Seiten in Fetzen herunter. Das elektrische Licht funktionierte nicht. Die Dekoration bestand aus fünf großen mit Buntpapier beklebten Papprollen, an deren einem Ende ein bunter Ballon zu sehen war. Bevor wir weiter rätselten, was das darstellen sollte, hatte ein kecker Tenor so ein Ding heruntergerissen und uns wortlos demonstriert, dass es sich möglicherweise um einen Phallus handelte.

Und das alles für die Heilige Katharina?!

Nach unseren Warm-up-Übungen, bei denen der Maestro uns auf ein rasendes Tempo und eine immense Lautstärke einstellte, mussten wir wegen zunehmender Unruhe die Bühne verlassen. 20 lärmende Jugendliche warteten mit ihren Instrumenten und behaupteten, sie seien im Vorprogramm dran. So ist das bei Live- und Openairkonzerten ja üblich. Wir waren allerdings auch ohne Vorprogramm schon total aufgeheizt.

Nun aber gab es doch zwei positive Momente:
Erstens kam Gracieta von den Toiletten (direkt neben dem Bühnenaufgang) wieder und sagte mit leuchtenden Augen: „Die Toiletten sind ganz sauber. Wasser, Licht, Papier, ganz sauber! Fünf Sterne!“ Sie wiederholte es dreimal. Sie konnte es nicht fassen. Fünf Sterne und Wasser und Papier und Licht.

Zweitens füllte sich der Saal zögerlich mit Besuchern, denn die Jugendlichen hatten ihre Familien, vornehmlich ihre Omas mitgebracht als Aufsichtspersonen und Zuhörer. Diese alten Bauersfrauen aus dem Dorf, ländliches Publikum in Kittelschürzen, Strickjacken und Pantoffeln, nahmen auf den windschiefen Bänken Platz. Das Konzertpublikum des Dorfes Santa Catarina war sehr laut und rüpelhaft und ungezogen. Soe benahmen sich so, wie man sich benimmt, wenn man eben zuhause ist, wo alles armselig und hässlich ist.
Na, immerhin etwas Publikum. Außer der nicht anwesenden, aber im Geiste über allem schwebenden Santa Catarina natürlich.
Die 20 Jugendlichen, 14, 15 Jahre alt, bauten sich auf der Bühne auf. Drei Jungen mit Gitarre, einer mit Klarinette und einer mit einem Cachon setzten sich seitlich dazu. Das Geräusch wurde endlich ein wenig gedämpft, vielmehr übertönt durch die Ansprache, die der (vermutliche) Jugendleiter hielt, seine Begrüßung mit den vielen Zisch-Lauten der portugiesischen Sprache aber verhallte in dem riesigen Saal mit der enormen Lautsprecheranlage.
Die Gruppe trug drei fröhliche, bewegt–charismatische Jesuslieder vor. Dabei hielten sie sich an ihren Textblättern fest, bzw. diese vors Gesicht. Mit einem Beamer wurden die Texte an die Rückwand der Bühne projiziert. Wir konnten also wenigstens lesen, was sie sangen. Sie sangen fröhlich, laut und ungeübt. Wir klatschten fröhlich, laut und sehr geübt und feuerten sie an.

Danach unser Auftritt.

Der Maestro hatte sich sein Konzertjackett angezogen: Eine lange weiße Jacke, die mit schwarzen floralen Mustern bedruckt war. Sie erinnerte mich an schwere Vorhänge in französischen Schlössern. Der Panther hatte sich verwandelt, aber nur, damit man nicht sofort das Raubtier in ihm erkennen sollte. Er hatte nämlich bereits seine Beute erspäht. Er hatte gespürt, welche Power und große Musikalität in den jungen Leuten steckte, die noch gar keiner entdeckt, geweckt und herausgefordert hatte.
Und nun setzte er zum großen Sprung an:
Links von ihm, oben auf der Bühne stand sein Chor, der auf die kleinste Regung des Maestros achtete und das umsetzte, was er mit feurigen Blicken und Kopfnicken und Fingerzeichen andeutete, und rechts unterhalb der Bühne auf den drei vordersten Bänken saßen dichtgedrängt die Jugendlichen und blickten auf zu ihm. Dazwischen sprang der Maestro wie wild herum und dirigierte und sang und gestikulierte und rollte mit den Augen und hüpfte. Wildkatzenhaft!
Er forderte das Publikum auf zu klatschen und gab den Rhythmus vor. Er lobte und feuerte sie an, mit den Füßen zu trampeln. Er zog sie alle in seinen Bann, ohne allerdings seinen Chor zu vernachlässigen, den hatte er fest im Griff, der reagierte wie gewohnt, sofort, aufs Stichwort, gekonnt, wie hypnotisiert. Die Jugendlichen ebenso, sie sprangen auf, klatschten, winkten mit erhobenen Armen, der Chor sang, selbst die wachsamen Omas hielt es nicht länger auf den Sitzen. Bald war der ganze Saal aus dem Häuschen.
Inzwischen strömten immer mehr Jugendliche in den Saal. Und als der Maestro plötzlich sein Saxophon hervorholte und im Wechsel mit dem Chor verführerische, verlockende Rattenfängermelodien improvisierte, hatte er alle Herzen gewonnen. Er schlich elegant mit gekrümmtem Buckel an die Kinder des Dorfes heran und lullte rattenfängerische Saxophonmelodien und wir jubelten begeistert-aufpeitschend dazu “Senhorá! Senhoraaaaaa!”
Das war wie damals – das verabredete Signal bei der Nelkenrevolution, denn wir sangen die Sätze des Revolutionsdichters Zé Afonso, bei deren Marschrhythmus jedes Portugiesenherz höher schlägt. “Entrudo, entrudo” und “Senhora de Almortão”. Statt mit roten Nelken wedelten wir mit roten Tüchern. Wir stampften mit den Füßen und rissen (selbst total hingerissen) alle mit. Und wenn der Rattenfänger-Maestro jetzt gesagt hätte:„Auf, lasst uns ins Paradies ziehen!“, ganz Santa Catarina wäre ihm gefolgt!

Was aber wäre ein fulminanter Dorfdisco-Konzertabend ohne Frangos, frische Brötchen und vinho tinto für die notleidenden Künstler? Nach langanhaltendem Applaus war die Tafel im Saal schnell zusammengeschoben. Die Chorsänger – alt und jung – taten sich gütlich, wie das nur Portugiesen um Mitternacht noch zu leisten imstande sind, und winkten einander glücklich mit Hühnerbeinen und Flügeln zu.

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