Gesungene Gedichte

Verfasst am: 10. Februar 2012 von Barbara 1 Kommentar

Gesungene Gedichte

Zur Chorprobe kam der junge Dirigent diesmal statt mit einem Handy, auf dem sämtliche portugiesische Chorsätze aufgezeichnet zu sein scheinen, weil es so intensiv bedient, benutzt, abgehört wird, mit einem Gedichtband, in dem er verliebt blätterte und glücklich Seite für Seite studierte.
“Was hast du da?”, fragte der Spopran.
“Gedichte einer Frau namens Andrade, sie sind wunderschön, ich liebe diese Worte.”
Das Buch lag aufgeschlagen auf dem Notenpult, während er unermüdlich mit dem schwach besetzten Alt – nur drei Figuren, die anderen waren im Saal ein Stockwerk tiefer verschwunden, wo ein Tanzabend stattfand, denn Tanzen und Spumante verführen einen portugiesischen Alt immer, auch wenn er alt ist – einige Phrasen übte. Dabei erklärte er leidenschaftlich, dass wir alle viel melodiöser singen müssten, schwingender, leiser, mehr Musik bitte. (Nicht so wie in unserem Dorfchor, wo es gilt, schön laut zu singen nach dem Motto: Wer am lautesten singt, ist Sieger.)

Schließlich sagte der Chorleiter in einer Pause, er finde es am schönsten, wenn wir die Gedichte hier in seinem Buch singen könnten, er würde eine leise Melodie zur Untermalung spielen und dazu das Gedicht singen.

Der Sopran staunte.

“Jetzt liest du bitte mal, während ich spiele.” Die kleine dralle Hausfrau, die Dichterin der Gruppe, die zu jedem Anlass Gelegenheitsgedichte reimt,
setzte sich gehorsam in Positur und rasselte das Gedicht herunter, wobei es aber nicht zu der gewünschten innigen Verschmelzung von Wort und Ton kam. “Noch einmal bitte.”

Dieser junge Mann mit den schwarzen Augen, den schwarzen Locken und dem schwarzen Dreitagebart spielte das süßeste Gedicht, erfand immer himmlischere Schleifen und Klänge, aber vergeblich, die Worte aus dem Gedichtband gesellten sich nicht dazu.
“Unsere Seele muss singen”, sagte er und versuchte zu erklären, was er da wollte. Wie der Dirigent in dem schwedischen Film “Wie im Himmel”, der seinem Kirchenchor die Himmelsmelodie entlocken wollte, die er hörte oder fühlte und suchte.
Aber der Sopran saß aufmüpfig da und wollte nicht himmelwärts die Seele singen lassen.
“Wir wollen diese Spielerei nicht”, meuterte Sopran I. “Wir singen nun seit Jahren hier und geben unser Bestes, wir wollen so singen wie immer.” Ich fand Sopran I plötzlich alt und hässlich trotz der schönen neuen Frisur und des Lippenstifts. “Ja, wir wollen so singen wie immer, nicht diese Gedichte”, sagte Sopran II und begann einen der beliebten Hits wie immer anzustimmen und zu schmettern. Und da summten und sangen gleich alle tapfer mit, sogar mehrstimmig.

Und da war der schöne Traum vom gesungenen Gedicht plötzlich zerbrochen und zugedeckt und zugeschüttet von den kleingeschlagenen Träumen und Scherben.

Und wir waren doch so nahe dran. Ich habe es schon richtig gehört, wie die Seele zu singen anfing, auch wenn sie gar nicht übersetzen konnte, was die portugiesischen Wörter und Sätze des Gedichts sagen wollten.

Eine Antwort

  1. Barbara schreibt:

    Möchte noch etwas hinzufügen:
    das Lied der stummen Katrin in der Inszenierung von Brechts “Mae Coragem” (J.G.Miguel, Lisboa Februar 2011)
    und
    Paul Gerhardt “Du, meine Seele, singe, wohlauf und singe schön!” aus der Barockzeit

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