Strelitzie

Verfasst am: 7. Mai 2007 von Barbara Keine Kommentare

Strelitzie
Marie Luise Kaschnitz

"Sobald ich, wie eben jetzt, eine Strelitzie im Zimmer habe, werde ich unruhig, kann nichts tun als die Pflanze ansehen, den tropischen Vogel, das Stück gefährliche Fremde, das ganz anders als etwa eine Orchidee meine gewohnte Umgebung terrorisiert. Der fleischige Stengel ist im rechten Winkel geknickt, aus der verdickten Hülle ragen an dieser Stelle seltsame Blütenblätter, orangengelbe Spitzen und  zartblaue Lanzen, die auf ihrer Mittelrippe fetten Blütenstaub tragen. Die eigentliche Blüte, ein umgewandeltes Blatt sitzt am äußersten Ende des abgewinkelten, rhabarberrötlichen Stengels, – sie ist tiefrot, ein einstiges Blütenblatt, wie gesagt, aus dem der Stengel, dick und steil, manchmal an der Spitze leicht gebogen, heraussteht.

Für einen Laien ein botanisches Wunder,
zweierlei Blütenstände,
einer leicht, zart, kolibrihaft,
einer fett und üppig, fast obszön.

Alles, was auch in uns ist, immer war, immer sein wird, Gier und schwebende Heiterkeit, grober Reiz und zarte Verführung, alles auf einem Stiel gewachsen und von den alten Kräften des Wassers und der Luft ernährt. Die Vögelchen schlagen mit ihren spitzen klirrenden Flügeln, die Blattblüte schiebt ihre fette rote Zunge vor und der Stempel, der einem männlichen Glied so ähnlich sieht, richtet sich auf.

Ich habe ein Stück Urwelt im Zimmer, ein böses und liebliches Paradies."

M.L. Kaschnitz, Tage, Tage, Jahre
Ffm. 1968, S. 68 (Eintrag am 5. Mai)

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