Via Sacra 2007 (II)

Verfasst am: 11. April 2007 von Barbara Keine Kommentare

Das letzte Abendmahl

Um 21 Uhr am Abend des Karfreitags war zwar das halbe Dorf schon auf dem Platz vor der Kirche versammelt, aber es fing noch lange nicht an. Die Cellos im Lautsprecher klagten immer noch dunkel und traurig. Einige der Mitspieler stolzierten schon in ihren Kostümen über die Straße und taten sich wichtig als römische Söldner oder Engelchen mit ihrem goldbestickten Umhang. Ja, sehen und gesehen werden – das steckt wohl so in ihnen allen. Und da kamen auch nach und nach die Jünger des Herrn, lachend und barfuß in Sandalen, mit einer Wandertasche aus Sackleinen. "Das ist doch Carlos und das Manuel und das…, kaum wieder zu erkennen, die sehen ja richtig echt aus!"
Das Wetter hielt sich. Es war fast sommerlich draußen.
Die Mitspieler schienen sich in ihrer Kostümierung und also auch in ihrer Rolle wohl zu fühlen. Sie gaben sich so wie sonst, bloß dass sie sich ja sonst gar nicht so öffentlich als Christen im Gemeindeleben bekannten. Die 12 Jünger Jesu waren jedenfalls keine der sonntäglichen Missa-Besucher. Ich sah sie dort fast nie. Aber nun waren sie hier und kamen fröhlich plaudernd herbei in ihrer arabischen Tracht, mit dem Kopftuch und dem gewundenen Tuch darüber. So muss das damals auch gewesen sein, als die ahnungslosen Jünger sich zum Mahl versammelten. Sie hatten keine Ahnung von dem, was Jesus erwartete. Aber sie waren da und guten Willens. Da war überhaupt kein Lampenfieber zu spüren, keine Aufgeregtheit, keine Hektik.
Ganz im Gegenteil, niemand machte Anstalten, mit dem Passionsspiel zu beginnen. Also ging ich in die Kapelle hinein, um mich dort in eine Bank zu setzen und zu warten. Da waren schon viele Zuschauer, viele Kinder, die  natürlich nicht saßen, sondern hin und her liefen, sich die Zeit mit Versteckspielen vertrieben, zur Toilette geführt wurden, sich ein paar Klapse von den  strengen Mamis einfingen, wenn sie zu sehr tobten, jedenfalls – die Zeit verging. Fast eine Stunde verstrich. Ich hatte Zeit, die gedeckte Tafel zu betrachten.
Leonardo da Vincis Gemälde hat sich wohl für ewig gültig in unsere Vorstellungen von Jesu Abschiedsmahl eingebrannt: der lange Tisch mit den Tonkrügen und Bechern, in der Mitte das große Fladenbrot, hinter dem Tisch die Bank für die Jünger und (unser Dorf ehrt Jesus auf seine Weise) der Thronsessel für Jesus. Dieses Bild hängt hier in fast jedem Haus. Genau so war jetzt vor den Altarstufen der Dorfkirche das Letzte Abendmahl vorbereitet und inszeniert.

Toni als Schriftgelehrter lief mit einem Stapel Zetteln – das Drehbuch – freundlich lachend hin und her, prüfte das Wasser für die Fußwaschung, prüfte den Wein in den Krügen auf dem Tisch, nahm das große runde Brot fort und brachte es nach einigen Minuten (unsichtbar vorgeschnitten) wieder, lief noch ein paar Male hin und zurück und kündigte dann ruhig und gelassen an, dass es in 5 Minuten beginne.
Der Jüngling, der schon dreimal in den vergangenen Jahren den Jesus gespielt hatte, kam mit gesenktem Kopf herein, hob die Augen nicht, machte sich in einer demütigen und unterwürfigen Haltung an der Wasserschüssel für die Fußwaschung zu schaffen und huschte wieder hinaus.
Endlich kamen plaudernd und fröhlich die 12 Jünger herein, sozusagen der Fußballverein unseres Dorfes. Ja, das waren "unsere Männer", junge und alte, der älteste war wohl der Sakristan, und das ist ein echter Jünger des Herrn. Setzten sich an den Tisch, schurrten mit den Stühlen, wussten genau, wohin jeder gehörte – wer mochte wohl der Judas Ischarioth sein? Ah, und Dorindo war also Johannes, der Lieblingsjünger. Irgendwie erschien mir alles sehr echt und natürlich, und das war ergreifend und anrührend.

Und nun kam Jesus. Er kam still hinter den anderen herein. Es war dieser Jüngling, über den ich schon oft nachgedacht habe, weil ich mich frage, wie diese Rolle wohl sein tägliches Leben verändert.  Über sein weißes Hemd hatte er einen purpurroten Umhang gelegt. Und er hatte sich eine Perücke aufgesetzt, die ihn völlig veränderte: Er sah aus wie Schneewittchen, so unschuldig, so lieb, so schön, dass alle anderen Menschen um ihn herum zu Zwergen wurden, die das Schneewittchen liebten. Eine mächtige schwarze Perücke mit langen Stocklocken, die ihm ins Gesicht fielen und die der androgyne Jesus immer wieder mit einer wehen Gebärde wegstreichen musste. So stellen sich die Jugendlichen in meinem Dorf also Jesus vor… Ich erinnerte mich daran, wenn die Kinder vom Baden im Meer wieder auftauchten und die langen dunklen Haare und Locken sich schwarz und glänzend ringelten und voller Wasserperlen waren? Das war so ein Anblick von unschuldiger Schönheit, den man gar nicht beschreiben kann.

Es war völlig still in der Kirche. Die Zuschauer starrten wie gebannt auf  Leonardo da Vincis Abendmahl-Bild. Man hörte nur die wenigen Worte Jesu, die doch jeder kannte. "Nehmt und esst! Nehmt und trinkt!" Und während die Männer fröhlich das Brot brachen und teilten und verzehrten, als hätten sie echten Hunger, versuchte ich vergeblich den Bezug zur Wirklichkeit herzustellen. Aber was war denn die Wirklichkeit, wenn nicht das Geschehen vor meinen Augen?

Jetzt wurde der Verräter entlarvt. Erschreckend, dass gerade ein junger Mann, der alles andere als ein Judas ist, diese Rolle übernommen hatte. Warum hatte er sich wohl dafür gemeldet? Er hat es ziemlich schwer, arbeitet viel und musste einige Schicksalsschläge hinnehmen. Er tat uns richtig leid, als er so leise und unbewegt die Kirche verließ. Die anderen Jünger ereiferten sich allerdings nicht und stopften fröhlich weiterhin ihre Backen voll Brot.

Dann legte Schneewittchen ihren roten Umhang ab und kniete sich an die Waschschüssel. Und einer nach dem anderen aus der Jüngerrunde kam, zog die Sandalen aus und ließ sich die Füße (vielmehr einen Fuß) waschen und trocknen.
In der atemlosen Stille hörte man nur hin und wieder eine der Frauen voller Mitleid seufzen: "Ai, Jesús."
Danach brach man auf und ging in den Garten Gethsemane. "Viel Volks" strömte hinterher. Draußen war die Nacht hereingebrochen, es regnete ein wenig, aber es war ein ganz milder Regen, so als ob jemand Tränen vergoss.

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