Die dicke Sängerin

Verfasst am: 29. Juni 2006 von Barbara Keine Kommentare

29.6.2006

Die dicke Sängerin

Diese Überschrift fiel mir ein als Analogiebildung zu (dem Titel des absurden Theaterstücks) "Die kahle Sängerin".

Unsere war gar nicht absurd, sondern sie sah so aus, wie eben manche der Mädchen im Nachbardorf aussehen, sie fiel überhaupt nicht auf, ich dachte, sie sei ein Neuzugang und aus der Reserve hervorgelockt worden, nachdem sie am Sonntag unseren wunderschönen Chor und die türkisfarbenen Schärpen hatte erstrahlen sehen. Was eine durchaus gewollte und verständliche Reaktion gewesen wäre.
Sie saß also im Sopran, und unweit von ihr in den Bänken saßen zwei Frauen, die Kaugummi kauten. Das fiel bei ihrem Rosenkranzgebet ja auch nicht weiter auf, aber hinterher, als sie stundenlang zuhören mussten, fiel es schon sehr auf, und ich schloss haarscharf: Aha, Emigranten aus Amerika. Die sind zum Jubiläum gekommen.

Plötzlich ertönte aus den Sopranreihen eine wunderschöne Stimme, so als wenn
man in einem Sperlingsgezeter auf einmal eine Nachtigall heraushört. Woher kam . die schöne klare und geschulte Stimme? Hatte ich noch nie wahrgenommen und guckte mir alle Gesichter an und – das musste sie sein:  die fremde junge Frau. Sie war sehr blass und hatte die Haare furchtbar glatt als Pferdeschwanz gebunden, wahrscheinlich um schmaler zu wirken, aber jetzt fielen ihre dicken Backen erst richtig auf.  Überhaupt. Sie war unheimlich fett. Sie hatte diese typische amerikanische Fast-Food-Figur in Jeans gezwängt, und alles quoll und wabbelte. Aber sie sang überirdisch schön wie ein Engel.
Das merkten auch die anderen Sängerinnen, und nach einer kleinen, stillen Besinnungspause, in der sie wohl auch erst gelauscht hatten und den Gesang orten mussten, ging ein aufgeregtes Geschnatter los: Die Spatzen hatten die fremde Nachtigall entdeckt und wehrten sich lautstark gegen den Eindringling.  Passte ja auch gar nicht in diese laut lärmende  und brüllende Folkloregruppe. Und von Fremden lassen wir uns sowieso nicht den Schneid abkaufen, die übertönen wir einfach. Es wurde geschnattert, was das Zeug hielt. Abgestimmt, welche Lieder passen und wie sie gesungen werden müssen und wie nicht und ob und wann in der Messe.

Da stand plötzlich die dicke Nachtigall auf, bat um Ruhe und  sagte energisch: "Wir sind hier ein Chor mit einem Meister, der allein das Sagen hat. Er bestimmt hier, und wir hören zu und tun genau das und nur das, was er anordnet, da gibt es nichts zu diskutieren und zu reden. Und jetzt bitte Ruhe. Habt ihr mich verstanden?"

Hoppla.

Ich glaube, in diesem Augenblick schmolz das Herz des Chorleiters dahin.
Und wäre nicht jeder Mann bei solch leidenschaftlicher Fürsprache dahingeschmolzen?
Von nun an lächelte er dermaßen glücklich in Richtung Nachtigall, wie ich es noch nie an ihm beobachtet habe.

Und die andern?

Na, die saßen etwas erschrocken da und waren dann auch wirklich still. Es galt ja, die Gunst des Meisters wieder zu erkämpfen. Sie wollten ja auch alle von ihm anerkannt und bewundert werden und waren deshalb ganz artig.

Und die dicke Sängerin sang.
Sie sang den Psalm und sang ein Ave Maria und sang zu den Refrains der Lieder eine jubelnd hohe Oberstimme. Ich habe diese Stimme schon einmal irgendwo gehört, sie hat so ein eigenartiges wunderschönes Timbre, wenn ich bloß wüsste… Also, diese Frau muss eine Ausbildung haben, also, ich muss das herausfinden…

Zum Schluss, nach Mitternacht, als wir endlich heimgehen durften, kam es dann noch zur Versöhnung, denn die Sängerin stellte sich noch einmal selbstbewusst vor die Leute hin und bedankte sich für den herrlichen Chorgesang beim Jubiläumskonzert (Uma maravilha!) und lobte den Chor als den schönsten, besten, größten, es waren mindestens 3 Tonnen Schmalz und Schmeichelei, aber es kam aus berufenen Munde und alle waren bereit, ihr zu glauben. Und dass sie so furchtbar fett und deformiert war, fiel nun gar nicht mehr ins Gewicht (welch feine treffliche Redensart!!). Im Gegenteil, man sah doch mal wieder, dass Gott alles gerecht verteilt. Der einen gibt er eine schlanke Figur und der anderen eine schöne Stimme, die eine ist eine kreischende Möwe und die andere eine Nachtigall. Und ist die nicht ein ganz unscheinbares graues Geschöpf, das nur in lauen Sommernächten die Stimme erhebt, während die Möwe hier zu Hause ist und das ganze Jahr herumschreien kann?

Die kaugummikauende ältere Frau in der Bank war übrigens die Mutter. Sie verriet Hagen (!!) dann auch, dass ihre Tochter in Amerika an der Oper singt und hier sozusagen den Wunsch der Mutter oder eine Promessa  erfüllt, beim Jubläum das Ave Maria zu singen.

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