Marmorwüste

Verfasst am: 2. Dezember 2005 von Barbara Keine Kommentare

"Also, das musst du sehen, du wirst es nicht glauben, es ist einfach unwahrscheinlich, komm mal mit."
Wir zerrten den Rudolfo am Allerheiligen-Sonntag, der in Portugal wohl so was wie bei uns der Totensonntag ist, ins Auto und bereisten die umliegenden Friedhöfe. Das Tor zu unserem Dorffriedhof war abgeschlossen, den Schlüssel hat Dona Lurdes im Laden, man sah aber schon von weitem die überquellende Blumenfülle und die roten Grablichter.
Im Nachbardorf war auch nicht viel los, nur ein paar fleißige Frauen liefen geschäftig zwischen den Gräbern herum und wischten anscheinend Staub oder kontrollierten die nachbarlichen Ruhestätten. Eine Senhora sprach mich an, stellte bekannt- und verwandtschaftliche Beziehungen her und erklärte mir, warum hier und heute auf diesem Friedhof noch nichts los sei: Also, das liegt daran, dass die Messe noch nicht stattgefunden hat, die Messe ist erst übermorgen, danach geht man über den Friedhof, dann sind alle Gräber geschmückt. Olá, das müsste man sich ansehen!
Na gut, fahren wir weiter.
In Sosa dagegen war der Teufel los, wenn man das von einem kirchlichen Feiertag, zumal auf dem Friedhof mal so sagen darf – wir kriegten kaum einen Parkplatz im Umkreis von 1 km. Da parkte große Lieferwagen vor der Mauer, hatten die Türen und Klappen aufgerissen und belieferten die Gräber mit Gestecken und riesigen Arrangements vom Teuersten. Das kann sich keiner vorstellen, der das noch nicht gesehen hat. So bombastisch wird kein Jubiläum, keine Fürsten-Hochzeit, kein Präsidenten-Empfang dekoriert. Und man "trägt" heutzutage nur Lilien und Orchideen und Strelitzien, künstlich und kunstvoll gestylt, dass man Bauchschmerzen kriegt.
Wir betraten das Marmormeer mit mulmigen Gefühlen  (Alliteration! M-m-m-m-m-m) und konnten es nicht fassen: welch ein Betrieb, Hunderte von Menschen zwischen den Marmorplatten, edelste Blumenpracht, ein Hin und Her – wir waren völlig perplex. Ich hatte das zwar erwartet, weil ich jedes Jahr die Friedhöfe in gelben Winterastern- oder Chrysanthemenwolken hab versinken sehen, aber diesmal war alles überdimensional veredelt und verteuert.
Manche der Gräber und Marmorsarkophage hatten Glasfenster und Glaswände mit Gardinen, und auf allen prangte so ein Gesteck. Und die Familien liefen da herum und schleppten und arrangierten und waren total aufgeregt.
Fand denn hier die Auferstehung der Toten statt?
Es gibt ja auch in Portugal so viel gleichgültige und nicht praktizierende Christen in den leeren Kirchen, dass man fast von einer unlebendigen Kirche sprechen kann,  aber heute war die "tote Christenheit aus dem Schlaf der Sicherheit" auferstanden und tummelte sich auf den Marmorgräbern der Vorfahren.
Wem galt eigentlich dieser wahnsinnig aufwändige Blumenschmuck?
Wem sollten die superteuren Gestecke imponieren?

Der Padre in unserer Dorfkirche hatte kürzlich mal in der Predigt geäußert, dass er das unpassend finde, wenn die Frauen statt in die Messe zu gehen, sich auf dem Friedhof zu schaffen machen und teure Blumen da hinbringen und sich nicht um die Lebenden kümmern. Hat er ja recht, aber er sagt das immer so lieblos und alle sind gegen ihn, wenn er solche Kritik vorbringt.
Ich konnte durchaus verstehen, dass es einem graust bei einem solchen irregeleiteten Totenkult.
Dem lieben Rudolfo wurde auch ziemlich schlecht beim Anblick dieses Ortes, denn as war trotz der vielen Menschen und trotz der teuren Blumen eine Wüste, eine richtige Wüste – und wir mussten ans Meer fahren und reine Luft einatmen.

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