Der Herzog im Brunnen

Verfasst am: 18. Juni 2005 von Barbara 1 Kommentar

Am 1. Juli vor 3 Jahren habe ich dir einmal vom "Herzog von Lissabon" erzählt. Es ist die 2. "Mail aus meinem Dorf", schau mal nach. Ich stand noch am Abwaschbecken und ganz unter dem Eindruck dieses gesunden prächtigen (naja!) Menschen, seiner Reden und Essmanieren, seines Machogehabes, seiner Brautwerbungsgeschichte.

Als wir gestern beim Spanferkelessen gefragt wurden, warum die Portugiesen zum Spanferkel Orangenscheiben servieren, fiel uns der alte Mann mit seinen Vorträgen über gesunde Ernährung wieder ein. "Weißt du noch, wie er von der Tafel aufsprang und seine Zitronen und Apfelsinen holte, vor allem aber sein Klappmesser wetzte, die Früchte aufschnitt und über unserem Teller ausquetschte? Kohl, Fleisch und Kartoffeln wurden mit Saft beträufelt, der Wein wurde mit Zitronensaft verdünnt… Er fragte gar nicht, sagte auch nicht "con licença", sondern quetschte mit bloßer Hand genau vor unserer Nase und auf unserem Teller den Saft aus, weil der die Speisen bekömmlicher und magenfreundlicher mache…"

Unsere Gäste schüttelten sich vor Abscheu, so wie wir uns damals geschüttelt haben.

"Was ist aus dem Herzog eigentlich geworden?"
"Er ging nach Brasilien zurück, das weiß ich noch", sagte ich.
"Nein, nein", widersprach unser Nachbar, "er ist tot."
"Wie? Er war doch sowas von unsterblich gesund…"
"Nein, er ist tot. Er ist in den Brunnen gestürzt."
"Wann? Wo?"
"Hier bei uns, genauer: im Nachbarort. Er ist tot, es ist noch nicht so lange her. Kurz bevor ihr aus Deutschland zurück kamt…"
"Wie ist das denn passiert?"
Sie zuckten die Schultern und sagten: "Er ist in den Brunnen gefallen und ertrunken. Tot."

Ich bin heftig erschrocken.
Stelle dir mal dieses Entsetzen vor:
Ich schreibe doch gerade meine zweite Kriminalgeschichte. Genau über dieses Thema, nämlich über eine Person, die in den tiefen Ziehbrunnen gefallen ist. Im Ansatz ist das auch eine völlig authentische Geschichte, solche Ereignisse gibt es hier immer wieder. Und ohne Kriminalpolizei oder Untersuchungen wird der Ertrunkene aus dem Brunnen gezogen und beerdigt. Ende. Alle heben bedauernd die Schultern, machen eine entschuldigende Geste und reden nicht mehr darüber. Sie reden niemals schlecht über Verstorbene. Die sind eben tot und basta. Man geht pflichtschuldigst zur Beerdigung mit, die ja gleich am nächsten Tag ist, und damit ist der Fall erledigt.
Also, ich beschäftige mich gerade mit einem solchen Fall, frage überall ein wenig herum, denke ständig darüber nach und erschrak sehr, als ich vom Herzog von Lisboa hörte, dass er auch so zu Tode gekommen ist. Ich erschrak, als habe mich einer bei meinen geheimen Gedanken ertappt…
Kann man mit seinen Gedanken jemandes Tod herbeiführen?
Warum erwähnten sie jetzt gerade diese merkwürdige Geschichte?

Ich fragte, ob niemand Nachforschungen über den Tod des Herzogs angestellt habe?
"Nein, niemand. Nein, das ist nicht üblich."
Ob die Polizei dagewesen sei.
"Polizei? Nein."
Ob der alte Mann Selbstmord begangen habe?
"Sie lachten: "Nein, bestimmt nicht! Der? Nein, der ganz bestimmt nicht."
Ob er betrunken war?
"Nein. Der war kein Trinker. Seine Mutter, ja, die hat sich tot getrunken. Die hat sich um den Verstand getrunken. Aber er nicht."
"Aber vielleicht hat ihn jemand in den Brunnen gestoßen?"
Sie sagten ruhig und als sei das ganz natürlich und selbstverständlich: "Nein, niemand hat ihn gestoßen. Er ist in den Brunnen gefallen."

Nach einer Weile fragte ich noch, ob denn niemand das mitbekommen habe, ob niemand etwas gehört hae, ob man den Alten nicht habe retten können…
Aber sie antworteten nicht und wechselten das Thema.
Kein Interesse mehr.
Lassen wir die Toten ruhen.
Nur die lustig schnatternde alte Dona Maria schaute noch einmal zu mir herüber und lächelte verschwörerisch, klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, um zu zeigen: Der hatte doch einen Vogel, der war doch ein Spinner! – und wandte sich dann mit ungeteilter Aufmerksamkeit wieder ihrem Spanferkel mit Orangenscheiben zu.

Eine Antwort

  1. Katharina schreibt:

    Und was soll ich denn nun daraus schließen?
    Wird dort das Kind mit dem Bade ausgeschüttet? Lieber gar nichts machen?
    Oder soll ich jetzt das kleine Lied singen:
    Ist ein Mann in Brunnen gefallen, hab ihn hören plumpsen, wär er nicht hineingefallen, wär er nicht ertrunken ?

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