Das dicke Karlchen

Verfasst am: 18. Juni 2004 von Barbara Keine Kommentare

Karlchen will heute nicht zur Schule gehen. Er will überhaupt nie mehr zur Schule. Schule ist doof, denn da ärgern ihn alle nur. Karlchen ist bockig, sauer, beleidigt, und er schmollt. Er ist 8 Jahre und fertig mit dieser Welt.
"Carlitos, nun geh endlich los", kreischt seine Mutter, denn sie muss ins Geschäft.
Der Junge setzt sich draußen vor dem Haus in den Sand und geht nicht einen Schritt.
"Nun mach endlich!" kreischt seine Mutter. Vielleicht kreischt sie gar nicht besonders. Sie spricht immer mit so hoher lauter Stimme, es hört sich furchtbar an. Es hört sich wie Keifen an.
Karlchen widerspricht nicht, er bewegt sich aber auch nicht, er sitzt mit seinem Schulranzen auf dem Rücken ganz dickfellig und beleidigt im Staub auf der Straße.
"Carlitos", kreischt die Mutter, "du kommst zu spät, nun geh los!"
Aber Karlchen denkt, falls er überhaupt denkt, denn das ist viel zu anstrengend: "Jetzt erst recht nicht. Mich kriegen hier keine 10 Pferde weg. Ich gehe nicht mehr in die Schule."
Allerdings hat die Mutter mehr als 10 Pferde unter der Motorhaube ihres großen Jeep, mit dem sie Karlchen jetzt zur Schule bringen wird. Es sind zwar nur100m bis dahin, aber das Spiel hat schon öfter gut funktioniert. Also holt sie den Riesenschlitten aus der Garage, wo noch mindestens 3 andere Autos stehen außer dem des Vaters, der schon ins Geschäft vorausgefahren ist.

Die Mutter zerrt, hievt und schiebt ihr Karlchen wie einen Kartoffelsack unter Mahn- und Drohreden ins Auto und prescht los. Karlchen sagt nichts. Er wird auch in der Schule nicht den Mund auftun, er wird in der Pause in der Ecke sitzen und überhaupt den ganzen Tag nichts sagen. Er ist ein Kartoffelsack.

Er ist seit Jahren ein Kartoffelsack. Immer waren alle zufrieden mit ihm, wenn er ruhig und gemütlich da saß und nicht störte. Sie stopften ihn mit Essen und Süßigkeiten voll, gaben ihm alles, wonach er schrie, und waren zufrieden. Karlchen war auch zufrieden. Bis zu dem Tag, als er in die Schule kam. Da waren die kleinen Mädchen, die ihn auslachten, die sich über ihn lustig machten, die über ihn tuschelten. Und die anderen Buben, die pfiffig und wendig waren und ihn bei jeder Gelegenheit bloßstellten und lächerlich machten. "Carlito-gordito" riefen sie alle hinter ihm her, "Karlchen-Dickerchen". Und er konnte sie nie erwischen, er konnte ja nicht schnell laufen, er kriegte sie sowieso nicht ein, deshalb nahm er die Schmähungen entgegen und watschelte traurig herum und war gekränkt und beleidigt.

Die Lehrerin verstand seinen Kummer wohl auch nicht. Scherzend rief sie Carlito-gordito an die Tafel und sagte: " Schreib das Wort <<dick >>einmal auf. So ein großer Junge wird das doch wohl können." Aber Karlchen konnte und wusste gar nichts mehr und stand nur herum und litt. Aber das zeigte er natürlich nicht.

Zum Mittagessen watschelte er zum Haus der Großeltern, einfachen Bauersleuten. Hier war er eigentlich aufgewachsen, denn die Eltern hatten nie Zeit für das Kind. Sie gaben den Kleinen morgens im Schlafanzug bei der Großmutter ab, er machte ja keine Probleme und so konnte die alte Frau ganz beruhigt zur Feldarbeit gehen. Sie arbeitete schwer und kochte dann für das Kind dasselbe wie für den Mann, der vom Acker kam. Diese Großeltern sprachen überhaupt nicht mit dem Kind, aber sie lachten über ihn, weil er so viel Fleisch essen konnte, mehr als der Großvater. "Iss, mein Junge, iss, damit du groß und stark wirst!" Dazu gab es süße Limo, bis man nicht mehr "PAPP" sagen konnte und müde umfiel.

Karlchen war ein niedlicher kleiner Junge, ein Putto mit hübschen Locken und dunklen Augen. Er hatte eine ganz wunderschöne zarte Stimme, und es war die reinste Himmelsmusik, als er zu sprechen anfing. Aber die Stimme versiegte wie ein unbenutztes Instrument oder wie ein Bach, aus dem niemand Wasser schöpfte. Karlchen verstummte.
Als er dann auch keinen Spaß mehr daran hatte, von allen geknuddelt und geküsst zu werden, wie es in Portugal üblich ist, fanden ihn die Erwachsenen plötzlich widerborstig und kümmerten sich noch weniger um ihn. Ihm war es recht, wenn man ihn nur in Ruhe ließ.

Dann kam die große Feier der Erstkommunion.  Carlitos wurde auch zur Katechese geschickt und ließ ein Jahr lang alles über sich ergehen. Die Mädchen in der ersten Reihe waren sowieso viel klüger und gaben sofort alle Antworten und wussten alles und konnten alles auswendig aufsagen. Er saß Sonntag für Sonntag gelangweilt da und fand es gut, dass er mit offenen Augen weiterschlafen konnte, nun ja, lieber wäre er wie seine Eltern im Bett geblieben. Aber die bigotte Großmutter bestand darauf, das Kind zur Messe mitzunehmen.

Karlchen bekam ein wunderschönes weißes teures Kommunionskleid, eine Kette mit einem Kreuz, ein Paar neue Hosen und Schuhe, ein flottes T-Shirt und einen neuen Haarschnitt. Leider konnte man den engen Stehkragen des Gewandes nicht schließen, und als die Großmutter die Kordelschnur um seinen runden Bauch legte, sah Carlitos wie ein Apfel im Schlafrock aus, der aus der Haut platzte.

Seine Klassenkameradinnen Cristina und Anabela lachten sich halb schief, obwohl es so eine ernste Feier war. Und Paulo, Silvestro und Luis flüsterten und spotteten über den rollenden Karl, der wie ein Kartoffelsack vor dem Altar stand.

Karlchen empfand diese Verkleidung wie einen besonderen Hohn, er war unsagbar gekränkt und tief verwundet und beleidigt, er bewegte sich keinen Millimeter, er lächelte nicht, er hob nicht die Augen, er war ein einziger Vorwurf, eine einzige Anklage, ein Hilfeschrei.

Und der Kruzifixus, mager und abgehärmt, dieser in seinem Elend noch so schöne Christus mit herrlichen Muskeln und Waschbrettbauch, dieser Heiland am Kreuz, von dem sie gesagt hatten, er hilft den Kleinen und Gepeinigten, er stieg nicht herunter.

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