Abschreiben lassen

Verfasst am: 6. Juni 2004 von Barbara Keine Kommentare

Heute am Heiligen Trinitatistag  ist das Fest der Erstkommunion für die kleinen Katechumenen in unserem Dorf. Die Feier ist nachmittags um 15 Uhr in der Hauptkirche im Nachbardorf. Der Chor hat die ganze Woche dafür geübt. Die Chormitglieder aus unserer Kapelle sind abends in den Nachbarort gefahren und haben die liturgischen Stücke geprobt  und die Lieblingslieder der Kinder geübt (wobei die dortigen Stammsänger natürlich versuchten, ihre Dominanz durch Lautstärke und forsche flotte Reden zu demonstrieren).

Dass die Erstkommunions-Kinder mitsamt ihren Müttern heute fehlten, machte sich schmerzlich bemerkbar: Es saßen nur drei Dötzchen in den ersten Bänken, wo sich sonst die Bübchen und Mädchen schubsen und drängeln. Und die Familienangehörigen fehlten ebenfalls. Sie fehlten natürlich auch in unseren Sängerreihen.

So kam es, dass ich als einzige den Zettel hatte, auf dem ich bei der letzten Chorprobe den Psalm des Tages und die Liederfolge aufgeschrieben hatte.
Meine Banknachbarinnen und Vorderfrauen, die in den Morgengottesdienst kamen und sich aufatmend niederließen, fragten flüsternd: "Was singen wir nach dem Aleluia?" Und ich schob ihnen meinen Zettel zum Abschreiben hin:
"Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist und dem Gott, der da ist und war und sein wird. Aleluia."

Schnell kritzelte eine nach der anderen den Text ab und die Liednummern 30,91, 116, 766.

Mir kam das so vor wie früher das morgendliche Abschreiben in der Schule. "Hast du die Aufgabe gelöst? Hast du die Übersetzung gemacht? Hast du die Hausaufgabe gekonnt? Lass mich mal schnell abschreiben."

Leider gehörte ich nie zu den Strebern, die morgens vorbildliche Hausaufgaben vorweisen und gnädig jemanden abschreiben lassen konnten. Ich hätte viel darum gegeben, diese Macht einmal auszukosten, aber durch den häufigen Schulwechsel war ich immer im Hintertreffen und musste selbst oft abschreiben, besonders von meiner Klassenkameradin Annalisabeth. Aber die war sehr wohlwollend und arbeitete nicht erpresserisch oder ließ sich dafür mit Geld oder Hilfsdiensten bezahlen wie andere. ("Ich lass dich abschreiben, aber du musst dafür sagen, dass ich gestern bei dir war" – Alibis  waren ein beliebtes Zahlmittel.)

Deshalb kannst du wohl mein leises Glück erahnen, das ich heute morgen empfand, als die anderen Frauen bei mir "abschrieben",  was ich auf portugiesisch und lesbar und ganz richtig mit allen Akzenten notiert hatte: "Gloria ao Pai…" Und beinahe –naja, das ist übertrieben, aber doch ein bisschen beinahe – bildete ich, die als einzige die Hausaufgaben hatte, bildete ich mir ein, diesen Text selbst  erdacht und niedergeschrieben zu haben.

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