Viel Haus

Verfasst am: 7. November 2003 von Barbara Keine Kommentare

Meine Nachbarin Maria steht am Sonntagnachmittag mit mir vor dem Haus und lächelt über die sieben kleinen Jungen, die sich beim Spielen gegenseitig überschreien. Sieben Zehnjährige,  die auf der wenig belebten Dorfstraße mit Steinchen oder Murmeln kullern und diesen nachspringen, wobei sie sich wegschubsen und abdrängen, – ich weiß nicht, was das für ein Spiel ist, aber es scheint ihnen großen Spaß zu machen. Der eine hat Jacke, Pulli und Hemd ausgezogen und tobt schwitzend und aufgeregt mit nacktem Oberkörper herum. Es ist immerhin November! Er hat ein nettes Speckbäuchlein und ist offensichtlich der "gewichtigste" Mitspieler. Er schreit und dirigiert und kommandiert und schwitzt.

Im nahen Wald wird auch geschrieen und gerufen, geschossen und geknallt. Es ist ein sonniger Sonntag, der erste regenfreie Tag seit langem. Da gehen alle Männer des Dorfes auf die Jagd. Sie schießen ein paarmal in die Luft, einfach so aus Spaß, das hallt schön wider.  Die Hunde kläffen wie verrückt, die Männer grölen und scheinen mit unartikulierten gurrenden Lauten irgend einen Hasen hinterm Ofen hervorlocken zu wollen. Gibt es hier überhaupt noch irgendwo einen einzigen Hasen?

Hier die Buben – dort die Männer…

"Wie der Vater, so der Sohn", sagt Maria und freut sich über die Kinderschar.
"Früher hatte jede Familie so viele Kinder. Die meisten hatten 7, 9 bis 14 Kinder. Sie spielten immer auf der Straße. Früher, als ich ein Kind war, gab es nicht viel Platz im Haus. Wir spielten immer auf der Straße."

"Ja, ich kenne diese typischen Landarbeiterhäuser hier in der Gándara, im nordportugiesischen Heide- oder Dünengebiet. Alle diese Häuser haben nur eine gute Stube, zwei Schlafkammern und dahinter die Küche, die auch Wohnraum ist", sage ich. "Wie unser altes Haus, wie dein altes Haus."

"Ja, so war das, in der einen Schlafkammer schliefen die Eltern in einem Bett, in der anderen die Kinder", sagt sie nachdenklich. Und dann sagt sie vier Wörter: "Wenig Haus – viele Menschen."

Ich übersetze mir diese knappe und inhaltlich doch sehr vielsagende Rede und denke, was sie damit ausdrücken will, ist wohl, dass heute das genaue Gegenteil vorliegt:
Viel Haus – wenige Menschen.

Ich finde diese Feststellung zutreffend und sage deshalb laut: "Heute gibt es dagegen viel  Haus – muita casa -, aber wenige Bewohner – pouca gente -."

"Genau", nickt sie, "überleg doch mal, allein in unserer Straße: – welche Paläste, Häuser mit 2 Stockwerken, und überall wohnen nur noch Großmütter oder alte Ehepaare ohne Kinder, zwei Häuser stehen sogar total leer und warten auf die Rückkehr der Emigranten. Es ist wahr! Viel Haus und wenige Menschen…"

Armes Portugal,
du betonierst dich zu,
um Platz für deine Kinder zu schaffen,
und deine Kinder
finden keinen Platz mehr zum Leben,
weil du dich zubetoniert hast.

Derweil springen die glücklichen Bengel über eine Pfütze, lachen und schreien, das Speckbäuchlein immer am lautesten, wischt sich die verklebten, vom Schwitzen nassen Haare aus dem Gesicht, schubst und rempelt die anderen um,
die milde Sonne wärmt,
die Glocke spielt die Uhrzeit nach der Melodie "Ave, ave, ave Maria"
im nahen Wald rufen die Männer,
die Hunde bellen.

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