Hoftheater

Verfasst am: 24. Oktober 2003 von Barbara 3 Kommentare

Senhor Felix  rief an und lud uns zu seinem Theaterabend ein: "Übermorgen, um 21 Uhr, es wäre schön, wenn ihr kommt."
"Wir haben Besuch."
"Vielleicht kommen die Besucher mit. Das wäre schön. Ich würde mich freuen."

Im Nachbardorf betreibt Senhor Felix auf seinem Hof das "Teatro Revisto – Os Traquinos". Er hat auf dem schmalen Höfchen oder vielmehr in der Hofeinfahrt neben seinem Haus unter dem gewellten Plastikfolien-Gewölbe eine provisorische Bühne gebaut, wo er alle halbe Jahre ein buntes Programm bietet. Man geht von der Dorfstraße durch das geöffnete Gartentor ein paar Schritte durch den regennassen Vorgarten und steht schon unter dem überdachten Hof. Eine Glühbirne beleuchtet ein verwaschenes Plakat. Demnach handelt es sich hier wirklich um das Dorftheater. Hier sind wir richtig. Der Regen hat aufgehört. Auf den Steinen und in den Regentropfen, die an den verwelkten Hortensien hängen, funkelt das Licht der Glühbirne. Die Massen strömen, nun ja, das gerade nicht, aber immerhin kommen Leute, und zwar alle Generationen. Halt, erst einmal geht es an der Kasse vorbei. Ein Knabe, von Mutter, Oma und Schwester assistiert, fragt nach Name und Wohnort des Besuchers. Der Eintritt kostet 2 Euro.  Die Einnahmen wandern in eine weihnachtlich dekorierte Keksdose, die die energische, um nicht zu sagen raffgierige Mutter unter dem Tresen hervorholt. Man dreht sich um und steht im Zuschauerrraum. Da warten schon die ersten Zuschauer, auf den Brettern sitzend, die Herr Felix über abgesägte Baumstümpfe gelegt hat. Der Sitzkomfort wird erhöht durch Zeitungen und aktuelle Werbeprospekte der Kaufhausketten in der näheren Umgebung. Man kann sich die Wartezeit mit dem Studium der Preise vertreiben oder quer durch den Raum mit den Besuchern reden. "Na, auch hier? Ja, viel Regen heute."  Und munter weiter … alles ist muito bem.

Die üblichen portugiesischen Hofpflanzen wuchern neben dir im Zementkübel, in Töpfen und Blecheimern. Die meisten der Frauen – wie in der Kirche auch hier vorwiegend Frauen – kennt man schon. Eine rückt näher: "Woher kommst du? So, aus dem Nachbarort. Da wohnt meine Cousine. Ja, genau, das ist sie. Grüße sie schön von mir. Ach, sie ist zur Zeit verreist. Ja, sag ihr schöne Grüße von Arminda."

Ich schaue mir interessiert den Vorhang an. Herr Felix hat eine grüne Plastik-Wäscheleine an der Bühnenrampe gezogen und hier einen hellblauen Duschvorhang  aufgefädelt. Hinter dem Vorhang ist reger Betrieb. Alle Sekunden wird das Tuch zur Seite geschoben, weil jemand hervortritt, eintreten möchte, "nur mal eben" schauen will, dringend etwas sucht… Die schwarzgekleidete Nachbarin neben Dona Arminda tuschelt vertraulich mit mir: "Magst du Portugal? Magst du Theater? Ich kann leider nicht deutsch sprechen, aber der Sohn meiner Verwandten hat es gelernt. Ja, der Felix ist ein großer Künstler!"

Rechts neben mir sitzt mit leuchtenden Augen Alo, bereit, alles, was jetzt kommt, wohlwollend zu genießen. Sie ist mit Klaus zu Besuch aus dem Algarve gekommen. Wir haben es allen gleich erzählt: "Ja, das sind auch Deutsche. Sie kommen aus dem Algarve. Sie möchten auch gerne das Theater von Senhor Felix sehen."
Oh, so weither gereiste Gäste!
Sogar aus dem Algarve kommen sie zu uns ins Dorf!

Alo findet das dörfliche Revuetheater wunderbar spannend  und aufregend. Sie sitzt da ganz erwartungsvoll, ihre Augen glänzen. Wir sind erleichtert, nämlich eigentlich finden wir es ebenfalls wunderschön. Dass einer am Samstagabend, statt vor der Glotze oder im Café herumzuhängen, selbstgemachtes Theaterspielt, mit so wenigen einfachen Mitteln eine Glitzerwelt aufbaut und …  sieh dich mal um,  dass so viele Leute kommen! Alle Plätze sind belegt. Und im Eingang drücken sich die Männer – wie in der Kirche. Immer stehen sie im Eingang, damit sie den Rücken frei haben – meistens für den Rückzug oder so.

Der durchsichtige Duschvorhang wirkt geheimnisvoll oder verräterisch wie beim Schattentheater, man erkennt genau das Profil des Ansagers, des Beleuchters oder Toningenieurs, der den rauschenden, übersteuerten Lautsprecher handhabt. Der Ansager probt bei angeschaltetem Mikrofon seine erste Ansage, von der man absolut nichts versteht. Dann – es ist jetzt 21: 45 Uhr – tritt er strahlend vor den Vorhang und wiederholt die zwei Sätze, die ich noch immer nicht verstehe, weder akustisch noch inhaltlich. Das Publikum klatscht, und der Ansager zieht strahlend den Vorhang zur Seite, nur zu der einen Seite, so dass die Frauen rechts an der Wand des Zuschauerraums die Bühne nur halb sehen können, was im weiteren Verlauf des Abends zu einem energischen Kampf führt: Vorhang zur Seite – Frau Ção springt auf und klemmt ihn hinter einem Stab fest, damit der Blick frei wird – Vorhang zu – mehrere Hände zerren das himmelblaue Wäschestück wieder frei. Später werden alle dieses Spiels überdrüssig und buhen den Strahlemann von Ansager aus: "Lass doch den Vorhang offen! Was soll denn dieses ewige Auf- und Zuziehen? He, lass das jetzt offen." Aber er strahlt und tut seine Pflicht und nuschelt weiter leise ins Mikrofon und reißt den Duschvorhang zu und auf und auf und zu.

Das erste Stück zeigt ein portugiesisches Wohnzimmer, in dem Herr Felix in Morgenrock und Pantoffeln als Hausmann herumstolziert und über seine viele Arbeit klagt. Er begießt Blumen, wischt Staub und häkelt Zierdeckchen, während seine blondperückte Ehefrau, die prall und knackig wie eine Leberwurst aussieht und sich aufreizend vor dem Spiegel schminkt, lieber ausgehen möchte und augenscheinlich zu ihrem Liebhaber eilt. Dabei amüsiert sich das Publikum aufs beste, weil so viele Anspielungen auf das Dorf und seine Bewohner gemacht werden, dass alle zustimmend nicken und kichern und klatschen.  Das Ende des Lustspiels zeigt dann nach munterem Partnertausch, wenn ich das richtig verstanden habe, zwei glücklich vereinte Liebespaare. Zwei Vorhänge. Ich bin begeistert: Dieser Herr Felix ist ein Erzkomödiant, er spricht sehr deutlich und geschult, er bewegt sich gut und versteht es, mit dem Publikum umzugehen. Und am tollsten finde ich, dass er das halbe Dorf als aktive Mitspieler auf die Bühne gebracht und als Zuschauer angezogen hat. Das ist auf dem Dorf, wo jeder jeden genaustens kennt und niemand in die Anonymität abtauchen kann, eine große Leistung. Ich klatsche begeistert und fühle mich um Jahre verjüngt… Damals auf dem Dorf, wo wir als Kinder alle mitspielten und tanzten und bei ebensolchen Aufführungen mitmachten… Und als Lehrerin bei den Inszenierungen zu Elternabenden…  Dazu das ganze Drumherum.  Ich finde es schööön.

"Ja, richtig schön," sagt Alo, "es erinnert mich an die Jahre, als wir bei den Fastnachtssitzungen dabei waren und Gedichte aufsagten und Lieder und Sketche vortrugen, wirklich schön." Sie ist echt angerührt, und das freut mich so, weil  wir uns ja mit dem Dorfleben und den Bewohnern hier gewissermaßen identifizieren.

Als nächste Darbietungen gibt es in munterer Folge Musik. Zwei junge Mädchen mit wallenden Locken und kurzen Röckchen singen einen modernen Hit nach "Deutschland sucht den Superstar"-Manier mit den heute üblichen Gesten und Hüftschwüngen. Viel Applaus. Kinder bringen einen Wechselgesang zu Gehör (es ist kaum zu vernehmen, aber das liegt eben wohl an unserem Gehör).

Dann ein Fado. Vier Guitarristas nehmen im "
Wohnzimmer von Herrn Felix" Platz und stimmen sich ein. Zwei von ihnen da vorne kenne ich gut, sie haben uns schon einmal bei der Buchvorstellung in Oliveira do Bairro begleitet, bei diesem multimedialen Kulturfestival, wo wir vor Lachen und Staunen alle von Stühlen gerutscht sind.

Die Fadista ist eine alte Frau mit Fransentuch und großer Kette, die bescheiden zum Mikrofon tritt und, ohne auf die musikalische Begleitung und das Vorspiel zu achten, zu singen anhebt. Die Guitarristas zögern ein wenig, lauschen, versuchen sich in den Gesang hineinzuhören und zu modulieren, spielen weiter, allerdings ganz anders als die Sängerin, die ernst und unbeirrt ihr Lied vorträgt. Es ist wahrlich ein sehr schmaler Grat zwischen Würde und Lächerlichkeit. Manchmal bricht die Stimme, dann klatscht das Publikum dezent Beifall und überbrückt diese Schwachstelle, bis sich die Frau wiedergefunden hat. Manchmal entfällt ihr der Text, dann singen alle Zuhörer zu den Klängen der Gitarren "Lalareia-lalareia-lalareia…"

Ein fröhlicher Knabe springt als Quim Barreios auf der Bühne herum, Karaoke ist angesagt. Es dauert eine Weile, bis die passende Musik auch wirklich passt. In der zweiten Reihe vor uns sitzt der Vater, der seinen schüchternen Sohn anfeuert und ihm die Bewegungen vorgibt, natürlich ohne Worte: " Nun zieh doch die Harmonika auf und zu, nun hüpfe, nun wirf die Arme hoch." Die gestenreiche Verständigung klappt sogar, und alle fallen sich beim Applaus glücklich und erschöpft in die Arme.

Diese Freude am Verkleiden!
Da stimmt auch das geringste Detail.
Zu jedem Liedchen hat sich der jeweilige Sänger besonders schön kostümiert. Herr Pedrogam tritt einmal als Matrose von Aveiro im Streifenhemd, dann als Angolaner auf, der den "Pedra Africana" mit warmer Bassstimme besingt. Die bekannte Fadista, die auch bei der Buchvorstellung in Oliveira dabei war und im 1. Stück die Geliebte spielte, ist einmal eine elegante Dame aus der Stadt, dann, zusammen dem als grüne hochbusige Lady verkleideten Herrn Felix, ein feiner Senhor mit Frack und Zylinder, dann eine singende Zigeunerin. Sie ist wirklich professionell.
Herr Felix singt einen frommen Fado über die Mutterliebe mit verklärtem Gesicht, geschlossenen Augen und gefalteten Händen, dann tritt er mit einer leibhaftigen Nonne auf und singt hingebungsvoll von der Liebe Gottes, die das Brot der Armen ist. Die Nonne wirft zum Schluss Bonbons ins Publikum, das nun seine Tränen nicht mehr zeigen muss, weil es mit dem Auffangen und Verteilen abgelenkt ist.

Nach 1 ½  Stunden Programm wird eine Pause eingelegt. Das verehrte Publikum solle sich die Beine vertreten und reichlich Getränke an der "Kasse" kaufen.

Wir stehen auf der Dorfstraße. Der Reporter der Monatszeitung von Vagos kommt angehastet und fragt: "Ist es schon vorbei? Ich möchte doch einen Bericht schreiben und fotografieren. Ist es etwa schon aus?"

O nein, es ist noch lange nicht aus. Jetzt ist nur eine kurze Pause. Da kommt noch mehr. Jetzt geht es erst richtig los!!

3 Antworten

  1. Alo Lehnhardt schreibt:

    Ja, ich kann Deinem Bericht nur zustimmen, Barbara! Was mich besonders erstaunt hat, war, dass wirklich alle Altersgruppen vertreten waren, nicht nur auf der Bühne sondern auch im Publikum. Ich fand es so schön, wie ernsthaft und ohne Häme gespielt und zugeschaut wurde. Alle die für uns etwas unzulänglich erscheinenden Dinge, wie etwa der Duschvorhang, sind eigentlich nur von meinem Klaus belächelt worden.

  2. Alo Lehnhardt schreibt:

    Ja, ich kann Deinem Bericht nur zustimmen, Barbara! Was mich besonders erstaunt hat, war, dass wirklich alle Altersgruppen vertreten waren, nicht nur auf der Bühne sondern auch im Publikum. Ich fand es so schön, wie ernsthaft und ohne Häme gespielt und zugeschaut wurde. Alle die für uns etwas unzulänglich erscheinenden Dinge, wie etwa der Duschvorhang, sind eigentlich nur von meinem Klaus belächelt worden.

  3. Alo Lehnhardt schreibt:

    Sorry, bin aus dem Internet geflogen und nun ist mein Komentar leider zwei mal da. Und sowas passiert mir, die ich doch eigentlich mit dem Medium umgehen gelernt habe!

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