Das Botticelli-Mädchen

Verfasst am: 27. Mai 2003 von Barbara Keine Kommentare

Lieber Claudio,
von einem völlig unerwarteten Wiedersehen mit dem Botticelli-Mädchen muss ich dir berichten.

Es ist ja nicht so, dass nur ich allein entzückt war von diesem Kindergesicht, umrahmt von blonden welligen Haaren. Die kleine Sängerin war auch anderen  Zuhörern aufgefallen, weil sie so aufmerksam im Chor mitsang, weil sie den Text auswendig sang (ein englisches und ein spanisches Lied), weil sie so schön den Mund öffnete, "… und völlig korrekt", wie ein Gast bemerkte. Der lange schwarze Chorrock machte die Erscheinung fast mystisch. Wir dachten, sie sei einem Gemälde entschwebt. Doch an jenem Abend war es fast unmöglich, sie zu fotografieren, weil sich die Kleine ständig sehr ernsthaft ihre Noten vors Gesicht hielt.

Plötzlich tauchte sie nun da in der großen Menschenmenge mit einigen Kindern auf, ganz leise und irreal. Sie bewegte sich still und sanft und unwirklich an der Hand eines jüngeren Bruders und am Arm eines älteren Mädchens durch die Menge, völlig ernst, ohne zu lachen, zu drängeln oder zu rufen. Stand da und schaute ganz still auf alles, was vor ihren Augen geschah.

Als sich die Versammlung auflöste, ging ich auf die drei Kinder zu und fragte, ob ich das blonde Mädchen fotografieren dürfe. Sie sei mir neulich aufgefallen, aber ich hätte kein Foto von ihr machen können. Das würde ich sehr gerne nachholen.

Die Kleine lächelte holdselig, blieb stehen, ohne die anderen loszulassen, und ließ sich fotografieren. Sie war gar nicht geschmeichelt oder verlegen. Sie blieb still, ernst und natürlich.
"Wie heißt du?" fragte ich, verstand aber die gehauchte Antwort nicht.
Die riefen dann die Erwachsenen mir um so lauter zu, denn im Nu hatte sich eine Schar von Frauen, Nachbarinnen, Verwandten angesammelt, die lachend und bestätigend die Szene bestaunten. "Sie heißt Verónica", sagten die Erwachsenen mit Triumph in der Stimme, was bedeutete: Ja, solche schönen portugiesischen Kinder gibt es bei uns, die muss man wirklich fotografieren, ja, das ist ein Kind aus unserem Dorf, ein schönes Kind mit einem schönen Namen. Verónica. Das ist Verónica.

Was hätte ich gemacht, wenn die Kleine wie alle anderen Leute die Tremocos-Hülsen ausgespuckt, geschubst, gekreischt und, dickbelegte Brötchen kauend, sich in der schwitzenden Menge fortbewegt hätte?

Merkwürdig, sie erschien mir – in ihrem kurzen hellen Sommerkleidchen,  mit einem rosa Jäckchen, barfuß in leichten Schuhen – so ätherisch, und auf einmal war sie verschwunden – ein besonderes KInd, so bleibt sie in meiner Erinnerung, diese Verónica Botticelli.

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