Kulturaufschwung

Verfasst am: 26. Mai 2003 von Barbara Keine Kommentare

Lieber Claudio,
du würdest staunen, wenn du miterleben könntest, wie hoch hier neuerdings das kulturelle Interesse ist! Jeder Ort bildet einen Chor, eine Theatergruppe, einen Folklore- oder Tanzzirkel, einen Sportverein, eine Fussballmannschaft, einen Radfahrer- oder Joggingclub. Und dann baut man aus eigener Initiative natürlich ein Haus als Versammlungsort für die Mitglieder der verschiedenen Gruppen, ein repräsentatives Haus, wo Aufführungen und Versammlungen stattfinden können. Es kommt mir vor, als sei dieser etwas rückständige und verschlafene Landstrich plötzlich aus seinem Dornröschenschlaf erwacht, reibe sich die Augen, springe auf und dränge zu großen Taten und Abenteuern.

Gestern haben wir solch ein neues Kultur- und Sportzentrum in Ponte de Vagos eröffnet, d.h. wir waren dabei, als es "inauguriert" wurde. Vor dem neuen Haus befindet sich seit 1999 ein schöner Sportplatz, auf dem sich einstweilen die Dorfbewohner tummelten, bis alle gewichtigen Persönlichkeiten eingetroffen waren. (Beginn: 12.30 Uhr, aber in echt erst um 13:15 Uhr) Die mit der Portugal-Flagge verdeckte Marmortafel am Haus wurde im Beisein des Bürgermeisters von Vagos und des Ortsvorstehers enthüllt, dann strömte man in den großen Kultursaal, der auch als Heimatmuseum dient und mit weißen Schleiflackmöbeln eingerichtet ist. (Erstaunlicher Geschmack.) Dort standen hinter einem Präsidiumstisch 10 wichtige Persönlichkeiten, die nacheinander eine Rede vom Stapel ließen. Am feurigsten (auswendig) der Oberbürgerneister von Vagos, der immer noch die Rede vom 6. Mai für meine Buchvorstellung (siehe unter AKTUELL auf der homepage) parat hatte. Damals hatte er sie abgelesen, die güldenen Worte über die Eigenart, den Wert und die Schönheit dieser unserer Heimat. Man bezeichnet dieses Gebiet hinter den Dünen als "Gândara", was soviel wie Heide, Steppe bedeutet, also, die Atlantikküste mit ihrem herben Reiz und ihren typischen Häusern, Trachten und Bräuchen.
Der Redner erging sich nun in begeisterten Ausführungen über die geliebte Heimat, die es zu hegen und zu pflegen gilt, indem man die Lieder, Tänze, Trachten, Bräuche bewahrt und tradiert. Es war richtig ansteckend und sehr wohltuend für die Volksseele, die zahlreich versammelt war. Nach mannigfaltigen Grußworten der anderen Herren ( Also, ich schmelze immer dahin, wenn die Redner da vorne so wahnsinnig ernst und ehrfürchtig und selbstbewusst und bescheiden zugleich und pflichtbewusst, bieder und feierlich "Ihren Mann stehen", stundenlang – ) wurde eine weitere Tafel im Raume enthüllt zum Gedenken an diesen wichtigen Tag. Danach trugen sich alle mit schwungvollen Unterschriften ins Gästebuch ein, und man strebte wieder nach draußen, wo ein Aperitif bereit stand: Tremocos und Portwein und Fanta oder ähnliches, kann\’s nicht genau sagen. Als wir uns an diesem Wühltisch vorbeibewegten, war er schon abgeräumt und leergetrunken. Nur Millionen gelber und runder Tremocos-Hülsen bedeckten den Boden und ergaben ein hübsches Muster auf dem Straßenbelag.
Die Aperitif-gestärkten Menschen hatten derweil das Büffet erstürmt, denn es gab ein "comida volante", ein fliegendes Essen, was man sich so wie Mensa-Essen vorstellen kann und was eigentlich auch wohl so gedacht war. Also, an Vorspeisen vorbei hätte man mit Hilfe eines Tabletts, eines Tellers und richtigen Essbestecks zur Essensausgabe schreiten können. Aber leider war "schreiten" völlig unmöglich und  der Stau bei den Brötchen, grünem Salat, Fleischstücken, Frangobeinen und Wurstscheiben schon unüberwindbar. Kein einziger Gast schaffte es, mit einem Plastikbecher voll CocaCola gegen den Strom wieder ins Freie zu dringen. Mann, können die Leute alle viel und schnell essen! Später sah man dann hin und wieder einen Familienvater, der über dem Kopf ein Tablett mit Suppe für seine Angehörigen transportierte.

Nur mit schnellem Griff zwischen einigen Leuten hindurch schnappte ich mir ein paar Stückchen broa (Maisbrot). Dafür haben wir dank Hagens Leutseligkeit aber ein paar "Pfundsadressen" von neuen Freunden.

Kaum war alles aufgeputzt, liefen die Gäste in die Cafés, um das übliche Tässchen Kaffee zu trinken und sich für die nachmittäglichen Darbietungen der Folkloregruppen auf der Bühne vor der Kirche zu rüsten.

Also, es lebe die Kultur.
Und feiern können sie hier wirklich. Sogar den Kulturaufschwung!

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