Via sacra

Verfasst am: 20. April 2003 von Barbara Keine Kommentare

Lieber Claudio,
die Passsions-Geschichte, die wir seit unserer Rückkehr hier erleben, ist unglaublich.

Vor unserer Abreise hatte Hagen dem Carlitos einen kleinen Aktionsplan für die Passionszeit und die Osternacht schriftlich gegeben. Und die Vorstellungen vom Kalvarienberg kannte er ja vielleicht aus den Vorjahren. Es war für uns schon eine sehr große Überraschung, das Interesse an der Darstellung von Passion und Ostern und den langsam entstehenden Kalvarienberg hier im Dorf zu sehen. Dieser Schrotthaufen, der gewaltige Ausmaße annahm… Ich beschrieb dir ja, dass in diesem Jahr der Sohn Gottes anscheinend auf Ölfässern hingerichtet werden sollte, eine Symbolik, die erschauern lässt.
(Wenn du das Foto anschaust, siehst du unter der schwarzen Plastikplane eine Tonne mit der Aufschrift GALP. )

Es folgte eine weitere Überraschung, als ein Plakat auftauchte:
Via Sacra, Sexta Feira, 21 horas.
Die Jugendlichen, die sich seit ca. einem Dreivierteljahr in den Räumen eines Hauses neben der Kirche treffen, hatten aus eigener Initiative den Kreuzweg mit 14 Stationen vorbereitet. Vor einigen Häusern bauten Bewohner die Stationen auf, z.B. die Küstersleute, Pompilio und Lurdes (Supermercado) und andere auf dem Weg an der Schule vorbei ins Tal hinunter, sogar Carlos Brandão hatte einen Altar errichtet. Dabei zeigen die Menschen hier viel liturgisches Gespür, sie stellen nicht wie bei den Marienandachten Lilien und Orchideen und liebliche Blüten als Blumenschmuck hin, sondern fast nur Rosmarinzweige mit ein paar lila Levkojen, dunkelblauen Anemonen oder blauen Iris.

Die Jugendlichen hatten sich die Gewänder aus Ouca besorgt, wo man zwar den Fundus für den Kreuzweg hat – die Frauengewänder, Samtumhang und Krone für Pilatus, Kutten für die Jünger, die Uniform für die römischen Soldaten -, aber nicht mehr spielt. Man sagt, dort sei man zerstritten.  (Dabei fällt mir ein, dass es hier im Kirchenvorstand immer Frauen gibt, die nur für die Gewänder zuständig sind – wie im Theater -  und die alles sehr gut in Ordnung halten.)
Die Prozession begann mit einer Andacht  in der Kapelle. Ein Lektor führte in die Geschichte ein und las dann auch weiter an jeder Station die entsprechende Textstelle aus den Evangelien, beginnend mit dem Verhör vor Pilatus, jedesmal zum Vaterunser mit gebieterischer Stimme auffordernd oder ein anderes Gebet sprechend. Der Kirchenchor wanderte mit den fetlich gewandeten Kirchenvorstehern hinter den Akteuren her und sang einen uns unbekannten Kreuzwegsgesang. Und das alles bei sternklarem und über dem Nachbarort Fondão rötlich gefärbtem Himmel. Die regenschweren Wolken hatten sich pünktlich zu Beginn des Kreuzweges verzogen.

Die feierliche Stimmung, die heilig-ergriffene Atmosphäre und ein kräftiger Frühlingsgeruch über dem Dorf waren unbeschreiblich. Die Jugendlichen, die das zum ersten Mal machten, waren mit Herz und Sinnen ganz bei der Sache. Der Jesus-Darsteller spielte mit großer Hingabe, er ließ sich geißeln und anschreien, verhöhnen, gefangennehmen, entkleiden und ans Kreuz schlagen, wo er nackt mit einem Lendenschurz hing. Auch die beiden Schächer am Kreuz spielten realistischer und anrührender als in Oberammergau.  Ich glaube, das lag daran, dass die Jugendlichen so wenig professionell, aber so tief portugiesisch-katholisch–gläubig spielen. Passionsdarstellungen kennen sie als Kinder schon sehr gut. Diese Bilder und Szenen sieht man hier – manchmal echt schauerlich – oft in den Kirchen, in Museen und bei Karfreitagsprozessionen.
Die "Volksmenge", das halbe Dorf,  war betroffen und stumm und zu Tränen gerührt und sehr ergriffen.

Dieses Passionsspiel war eine Premiere in Carregosa. Carlos Brandão vermutete später im Café, dass Hagen das alles organisiert hätte. Seit wir hier mit dem Krippenspiel angefangen hätten, sei eine Revolution in Carregosa geschehen, meinte er. Stimmt, es ist unglaublich. Es ist einfach unglaublich.

(Aber eine wirkliche Revolution wäre es erst, wenn wir hier zusammen zum Abendmahl gingen, jetzt, wo uns "nosso Papa" diese schöne österliche Enzyklika beschert hat.)

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