Der Rezitator

Verfasst am: 8. Februar 2003 von Barbara Keine Kommentare

Lieber Claudio,

da fielen dem Stadtrat beinahe die Augen aus dem Kopf!
Ein brechend voller Saal!
Auch die Empore – voll besetzt.
Und im Saaleingang standen die Massen, vornehmlich Männer, die stehen immer im Türeingang, Hände in den Hosentaschen und Rückzug gesichert, man kann jederzeit eine Zigarette rauchen, mal auf die Straße gehen und schön anonym bleiben. Bei Beerdigungen machen sie das immer so. Bei allen Veranstaltungen eigentlich. Die Frauen sitzen und singen, beten und lauschen, und die Männer stehen hinten im Saaleingang.

Das war also Fatimas Kulturnacht.
Es strömte und strömte. Man fand keinen Parkplatz mehr.
Alles, was Rang und Namen hatte, strömte ins Casa do Povo, wo Fatima Bicas Gedichtband, den die Stadt gedruckt und herausgegeben hatte, vorgestellt werden sollte.

Die Dichterin, schmal, zierlich, blass und schwarzhaarig, stand in einem bodenlangen weißen Wollmantel mit Pelzkragen wie eine Fürstin im Foyer und begrüßte die Ankömmlinge und nahm die Glückwünsche und Blumensträuße entgegen. Prachtgebinde aus Rosen und Orchideen und Tulpen – da wird nicht gespart, das muss sein, eine Dichterin ist in Portugal was wert!

"Ganz Deutschland sitzt schon oben", sagte sie zu uns und meinte die Freunde aus Troviscal, die eine ganze Stuhlreihe füllten.

Die Veranstaltung sollte um 21. 00 Uhr beginnen. Aber in Portugal beginnt nie etwas, wann es beginnen soll.

Um 21.45 Uhr bestiegen die Herren und Damen (alle trugen dunkelblaue Tuchmäntel, die sie lässig und feldherrnmäßig um die Schultern gelegt hatten) das Podium, das mit Blumen und Wasserflaschen geschmückt war. Allmählich wurde das Geschnatter im Saal leiser, man klopfte immer wieder ans Mikrofon, um zu prüfen, ob es geschaltet war. So merkte dann auch der letzte Mann hinten am Saaleingang, dass es nun wohl allmählich anfing.

Der Bürgermeister schaute begeistert in den übervollen Saal und konnte sich vor Freude nicht lassen, dass in seiner Stadt das Volk dermaßen für Kultur zu begeistern ist. Er wiederholte mehrmals, dass er noch niemals einen so guten Besuch, einen so vollen Saal gesehen habe, aber nun ja, seine Stadt schreibt eben Kultur ganz groß.

Nach seiner Rede meldete sich der Verleger, dann folgte eine Würdigung eines temperamentvollen dicken bekannten Dichters, danach sprach Fatima, die noch zarter in ihrem rosa Pullover wirkte, über ihr Schreiben: "Während ich schrieb…", passierte das und das. Sie bedankte sich bei allen Mitwirkenden und Zuhörern, bei ihrem Mann, ihrem Söhnchen und ihrer Familie, die den Haushalt in Ordnung hielt, "…während ich schrieb". Daraufhin bekam sie den Ehrenteller der Stadt Mira überreicht.
Nun begann die Kultur.

Eine Fadosängerin und ein Fadista mit 4 Gitarrenspielern sangen bekannte und beliebte Fados, bei denen die Leute im Saal mitsummen oder weinen, jedenfalls ganz stark mitgehen.

Es gab viel Beifall und begeisterte Zurufe.

Während sich zwei Gitarristen einstimmten, schritt ein junger Mann nach vorne und beherrschte fortan die Szene. Er hatte einen wallenden Mantel mit Pelerine  um die Schultern gelegt, dazu einen dunklen Künstlerschal locker um den Hals geschlungen, schritt ein paar Mal hin und her, stellte das Mikrofon mit verachtender Geste zur Seite, nahm seine Brille ab, zog die schwarze Capa (wie die Studenten von Coimbra sie tragen) enger, blickte streng ins Publikum, forderte Aufmerksamkeit und erhielt sie auch sofort, öffnete seinen Mund und begann, ein Gedicht zu deklamieren.

Es war hinreißend.

Dieser Portugiese mit seinem schmalen Kopf, mit den lockigen Haaren, der gelblichen Haut, den feurigen Augen –
Gebieter über das Volk von Mira und über die Dichtkunst –
ein Napoleon des Wortes –
er formte die Worte, machte Gedanken zu Tönen, schleuderte sie in die Menge –
schrie, hauchte, flüsterte, grollte, atmete, schwieg und sprach.
Ein Rezitator.

"Ein Gedicht von Paulino Tavares. Er ist anwesend", sprach er, und die Dichterworte von Paulino entströmten seinem Mund.

Machado Lopes.

"Ob der wohl dein Gedicht auch vorträgt", sagte Hagen in dem folgenden Beifallssturm. Und ich fing an zu hoffen, dass er es tut, einfach, um zu hören, wie ein kleines einfaches Wortgebilde, von diesem Mann deklamiert, zu einem Ereignis wird.

Das Programm hätte es mir ja verraten können, ob Senhor Lopes sich auch meines Gedichtes erbarmt, aber das Programm hatte ich daheim an die Wand geheftet. Also warteten wir die nächsten musikalischen und literarischen Darbietungen ab. Was hatte Fatima da alles auf die Beine gestellt! (Sie hatte doch tatsächlich Hagens Vorschläge, den Lancomento ihres kleinen Gedichtbändchens zu einem Event zu gestalten, voll und noch voller in die Tat umgesetzt.) Ein Fadista aus Coimbra sang, der große gemischte Chor aus Mira sang (er erinnerte seltsamerweise an russische Volksmusik), eine hübsche junge Frau trug Gedichte vor, und bevor das riesengroße jugendliche Philharmonie-Orchester von Mira rasant und flott die schmissigsten Melodien schmetterte (und von allen diesen jungen Orchestermitgliedern waren die Verwandten mitgekommen, welch eine Begeisterung schwang da mit!) trat Senhor Machado Lopes wieder auf und inszenierte sich.

Wieder stellte er das Mikrofon zur Seite, lächerlich, dieses Mikrofon! Das brauchte er nicht, nein… E r   nicht!! Der schwarze Umhang, die beschwörenden Blicke und Gesten, Brille auf, Brille ab, den Raum ausschreitend, und wie sah er fantastisch und unglaublich "portugiesisch" aus!

Wie ein Dompteur regierte er die Menge, und die Menge gehorchte ihm.
Alle waren atemlos still, als er anhub zu sprechen, wobei zwei Gitarristen  einfühlsam seine Worte untermalten.

"Em cima", sagte er laut und betonte jeden Buchstaben.
"Oben auf dem Wagen…"
– welch ein Gefühlsausbruch, ich erschrak, das muss man doch nicht so gewaltig hervorbringen. Diese nichtigen Präpositionen, Unwörter, Bedeutungslosigkeiten – er formte sie zu großartigen  Gebilden. Man erschauerte…
"Em cima…"

Und weiter – zart und mit Gefühl, lautmalend und beschwörend.
Er zeichnete mit Liebe und Verstehen das Bild vom Fuhrwerk auf den Heimweg.
Er rührte die Menschen an mit dieser vertrauten heimatlichen Szene.

Bis zu dem Schlusssatz:
"Du wolltest wissen, warum ich hier so gerne bin".

Machado Lopes deklamierte laut, sehr laut, Buchstaben für Buchstaben:
"Querias tu saver…"
Und als ob das der wichtigste Satz des Abends sei, wiederholte er mit der ganzen Kraft seiner Stimme diese drei Wörter:
"Querias tu saver…".
Sein Körper, seine Stimme, seine Hände, seine Augen sprachen, riefen in den Saal: "Queriaas tu saver…"

Das Ende "…warum ich hier so gerne bin" verhauchte warm, leise und verhalten.

Er endete.
Beifall brauste auf.
Die drei Personen vor mir drehten sich spontan um und sagten: "Parabems" und "Muito bem", eine Dame legte mir anerkennend ihre gepflegte Hand auf die Schulter (Ritterschlag von Queen Elizabeth), und der gewichtige Herr Stadtrat neben mir gratulierte und sagte wundervolle Dinge.

Ich habe es immerzu im Ohr, dieses "Querias tu saver" des Machado Lopes.

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