Wind

Verfasst am: 12. Dezember 2002 von Barbara Keine Kommentare

Lieber Claudio,

immer wieder fällt mir auf, wie sehr wir durch das einfache Leben hier auf dem Dorf sensibilisiert werden. Man lernt besser zu hören und zu riechen, kann viele Geräusche besser erkennen, hört nachts die Eule surren, die Mäuse trippeln, den Hund träumen. Man riecht den Wald, den Duft der Eukalyptusbäume und das feuchte Moos, man riecht die Erde und die Ställe. Man riecht sogar das Wasser. Heinz sagte auch neulich, dass er das Wasser aus der Leitung von der Compania nicht mag und lieber das Brunnenwasser holt. Und meine Abneigung gegen Chemie und diese starken Deos und Parfüms wird immer stärker.

Und nun stell dir so eine Provinzlerin in der Großstadt vor, jetzt, im Trubel und in der Hektik der vorweihnachtlichen Einkaufsmeile.

Zuerst war ich völlig fasziniert von dem Rummel, von den herrlich glitzernden Auslagen, von den fantastisch und zauberhaft dekorierten Geschenken, die so überflüssig und unnütz und doch so verlockend und begehrenswert sind. Dann traten wir in ein Kaufhaus, wo uns am Eingang  ein Schwall heißer Luft entgegenkam, ein heißer Mief, der uns den Atem raubte. Hier im Dorf hat keiner eine Heizung, nur das Kaminfeuer gibt überall Wärme. Das riecht wunderbar, es duftet nach Harz und knistert, und man kann sich schön daran wärmen. Die Luft im Kaufhaus dagegen erstickte mich. Ich wollte so schnell wie möglich wieder raus, verlor Hagen im Gewühl, sah und hörte nichts mehr, kriegte panische Erstickungsanfälle und befand mich endlich wieder draußen vor dem Konsumpalast in der Fußgängerzone.

Es wurde Abend.
Die Menschenmassen strömten.
Von überall her tönten Lautsprecher und Weihnachtslieder, Klingeln, Hupen, Stimmen, verwehte Klänge von Straßenmusikanten.

Und plötzlich hörte ich den Wind.
Wind und das Rauschen in der Luft.
Und das Brausen des Meeres.
Das war in diesem Getümmel deutlich zu hören. Über allem Stimmengewirr hörte ich den Wind.

Und ich kriegte wahnsinniges Heimweh nach dem Atlantik. Nach der großen Stille des Atlantik und nach dem gewaltigen Brausen des Meeres und nach dem  Wehen des Windes.

Es waren vier junge Indianer in voller Bemalung und mit Federschmuck, die da in der Fußgängerzone auf eigenartigen Holzflöten den Wind der Steppe und das Rauschen in der Luft nachmachten. Ihre sehnsuchtsvolle "Musik" war in dieser Umgebung genau so deplatziert wie ihr Kostüm. Befremdender können Marsmenschen auch nicht auftauchen.

Wie haben die sich hierher verirrt? Tiere auf der Flucht.

Manchmal verirren sich doch Rehe, Wölfe und Bären in die Ortschaften, getrieben von Hunger und Kälte. Wir sahen in Graal-Müritz, dem Kur- und Badeort an der Ostsee, tatsächlich im Dunkel ein paar Rehe in den Vorgärten, als wir in einer klirrendkalten Novembernacht durch das einsame Kurviertel fuhren. Sie wirkten so fremd und unwirklich wie Skulpturen und  sprangen gehetzt davon…

Ach, die Indianer und der Wind…
Ich habe ihre CD gekauft, obwohl ich die hier gar nicht brauche. Aber so kann ich vielleicht den Wind und den Atlantico mitnehmen, wenn ich mal wieder fort muss.

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