Zugvögel

Verfasst am: 6. Dezember 2002 von Barbara Keine Kommentare

Boa tarde, Claudio,
heute konnte ich erfolgreich eine Ausreißerin nach Hause bringen.
Eine Gans vom Nachbarn war gestern hoch über das Gehege hinweg geflogen, wir konnten sie gut sehen und hören, als wir im garten arbeiteten, sie schrie triumphierend und landete mit wuchtigen Flügelschlägen irgendwo hinten im freien Feld.

Dieses heisere Geschrei ist mir ja so vertraut von den Vogelzügen in Mecklenburg. Im Oktober ziehen die Einser-Formationen ständig über die Weiten, manchmal gegen Abend kommt der ganze Schwarm herunter, um auf einem Saatfeld zu übernachten. Die Bauern fürchten diese Übernachtungsgäste, weil sie viel Schaden anrichten. Aber für Norddeutsche lassen gerade der Zug der Wildgänse und ihr heiseres Rufen hoch oben am grau verhangenen Himmel, das Fallen des bunten Laubs, der Gedanke an ein warmes Zuhause und heißen Tee mit Kandiszucker jenes unbeschreibliche Herbstgefühl entstehen, das mit diesem sonderbaren Fernweh gepaart ist.

Neulich wurde ein junger Mann im Fernsehen vorgestellt, der mit Segeln wie ein Paraglider (die gibt es hier am Strand zahlreich, aber wie wird das nun geschrieben?) einen Vogelzug begleitete, nachdem er jahrelang die Tiere beobachtet und sich mit ihnen vertraut gemacht hatte, so dass sie ihn als Leittier (Alpha-Vogel) betrachteten. So erfuhr man viel über das Verhalten der Zugvögel, über Richtung und Orientierung, über Ruhephasen und Nahrungsaufnahme.

Was ist das nur für ein eigenartiger Drang in den Geschöpfen, dass sie immer wieder aufbrechen und davonziehen müssen. Sie fliegen ja nicht alle  in den Süden, wie es in den meisten Herbstgedichten heißt. "Schon ins Land der Pyramiden flohn die Störche übers Meer…"

Über Leipzig sahen wir Anfang Oktober in den Abendstunden riesige Vogelzüge in Richtung Osten. Vielleicht flogen die nach Armenien, wo es manchmal schöner sein mag als im Süden, wie alle meinen, was aber  nicht auf unser regenreiches Atlantikgebiet zutrifft.

Die Kraniche, die sich auf den Feldern Mecklenburgs sammeln, stehen da so verregnet und zersaust wie Maisstrünke auf einem abgeernteten Feld. Eigentlich sehen sie aus wie Störche, die ein Schlammbad genommen haben, oder wie geteerte und gefederte Flamingos nach einem Großbrand.

Ich kann sie so gut verstehen.

So packen wir auch unsere Koffer und fahren los, durch die Nebelbänke, durch die Regenbrühe, durch die Baustellen-Staus und den dichten Verkehr.
3.300 km.
Immerhin.

Doch zurück zur Nachbarsgans.
Die stand dann abends vor dem Zaun und konnte nicht wieder zurückfliegen, vielleicht wollte sie auch nicht. Sie stand wie eine dumme Gans da und schrie, und der Hund bellte aufgeregt, weil es ja schließlich sein Grundstück ist. Ich musste immerzu an das Federvieh denken, das die Nacht in unserem Garten und auf unserem Kompost zubrachte, von dem aus konnte die Gans nämlich zu den nachbarlichen Hühnern und Enten hinübersehen und zu ihrer Freundin, der zweiten Gans, die auf ihr Geschrei immer antwortete.

Wie soll man dabei schlafen? Zugvögelgeschrei, Hundegebell, Vollmond.

Und dann habe ich es doch heute morgen tatsächlich ohne Probleme geschafft, sie über den Acker bis  zu ihrem Tor zu scheuchen. Das habe ich aufgemacht und sie ins Gehege gelassen. Aufrecht und würdevoll kehrte sie zu den anderen zurück, die nur da standen und guckten.

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