Familienaufstellung

Verfasst am: 13. September 2002 von Barbara Keine Kommentare

Lieber Claudio,
es gibt seit einiger Zeit in der Psychotherapie ein Verfahren, das bei der Bewältigung und Behandlung von Krebs sowohl bei den Therapeuten als auch bei den Betroffenen große Aufmerksamkeit fand. Der ehemalige Jesuitenpater Bert Hellinger hat ein systemisches Konzept der "Familienstellung" entwickelt, das eine verblüffend wirksame Begleittherapie (besonders bei Krebserkrankten) ist. Es geht dabei um die eigenwillige Dynamik oder Energetik in den Beziehungen der Familienangehörigen, um die Zugehörigkeit des Einzelnen im großen Geflecht der Sippe.  

Da wird mit dem Patienten in einer Gruppe so gearbeitet, dass er sich aus dem Kreis jeweils Stellvertreter für die Personen wählt, die für seine Geschichte wichtig sind. Diese "stellt" er selbst intuitiv im Raum der Beziehung "zueinander".  Das heißt dann "Familienstellen".

Dabei geschieht ganz Erstaunliches, Hilfreiches und Heilsames: Es wird ein Kraftfeld aktiviert, mit dessen Hilfe Konflikte, aber auch mögliche Lösungen klar veranschaulicht werden. Der Patient erkennt Zusammenhänge, bringt Verborgenes ans Licht, entdeckt mögliche Wege der Lösung, erlebt sozusagen Selbsterfahrung, indem er sich "ortet", seine Wurzeln findet, seine unerklärlichen Verhaltensmuster oder Beziehungsstörungen erkennt, sein Suchen ("die Suchbewegung der Seele") beantworten kann.  Er findet "seinen Platz in der Ordnung der Liebe", wie Hellinger sagt. Insofern ist der Betroffene am eigenen Heilungsprozess aktiv beteiligt.

Das fiel mir ein, als ich den Briefwechsel meines Bruders mit einem amerikanischen Verwandten (Emigranten als Entwurzelte haben ein starkes Bedürfnis, ihren Stammbaum zu kennen) verfolgen durfte, der 200 Jahre Familiengeschichte aufgearbeitet hat, seine eigene Geschichte, die aber auch die meines Bruders und – natürlich – meine eigene ist. Für mich ist  das aufregend, anregend, spannend, beglückend,

Ich liebe Familiengeschichten über alles und höre zu gerne zu, wenn mir jemand die familiären Hintergründe und Beziehungen der Menschen hier im Dorf erklärt. Du weißt ja, es ist ein Dorf, wo irgendwie alle miteinander verwandt sind und jeder 162 Cousins und Cousinen 2. und 3. Grades hat. Es ist die unterhaltsamste Thematik, und ich ahnte schon lange, dass das Heimatgefühl, das "Zuhausesein" der Menschen hier mit dem Bewußtsein dieser Zugehörigkeit zu einer großen Sippe zu tun hat. Jeder hat "seinen Platz in der Ordnung der Liebe gefunden", braucht auch keinen Psychotherapeuten und kein "Familienstellen", weil er mitten in seiner Gegenwartsfamilie und in seiner Schicksalsfamilie lebt und jederzeit seinen Standort klar bestimmen kann.

Einmal habe ich mit Cristina Cunha ein Projekt besprochen, das ein deutscher Fotograf in seinem Dorf schon einmal durchgeführt hat: Er stellte vor jedem Haus des kleinen Dorfes die zugehörige Familie zusammen und machte ein Foto. Alles, was den Namen dieser Familie trug oder dazugeheiratet hatte, wurde als Gruppe fotografiert.  Damals war die Familienaufstellungs-Therapie noch nicht erfunden, man müsste einmal nachfragen, inwiefern diese Geschichte heilsam wirkte…

Für die Studentin Cristina war dann die Durchführung dieses Plans in unserem Dorf doch zu kompliziert und schwierig, aber schön wär’s gewesen!!

Und das Album mit diesen Fotos hätte ich zu gerne besessen, um mir von meiner erzählfreudigen Nachbarin die Geschichten zu jedem Dorfbewohner dazu erzählen zu lassen: Das ist der… und der hat  mit dieser… und die hat…

Eine Antwort verfassen