Prozession

Verfasst am: 25. August 2002 von Barbara 1 Kommentar

Lieber Claudio,
gestern abend bei Vollmond haben wir einen festlichen Umzug durch ein mecklenburgisches Dorf gemacht, das den 200jährigen Geburtstag seiner Kirche feierte. Polizeiautos, ein Lautsprecherwagen, ein Feuerwehrauto, ein Löschzug der Feuerwehr und viele Feuerwehrmänner, vorneweg die Bürgermeisterin mit ihrer Fahne neben der Pastorin mit der Kirchenfahne (Frauenpower!), viele Fackeln, acht große blumengeschmückte Bögen mit leuchtenden Lampions, 3 beleuchtete Transparente, auf denen die 6 Kirchen dargestellt sind, eine überlebensgroße Christophorusfigur, die den Christus trägt, und viele Kinder mit ihren Laternen begleiteten den Zug.

Du musst wissen, dass niemand hier nach 40 Jahren DDR solche "Aufmärsche" mit Fahnen und Machthabern liebt, dennoch zogen sie alle frohgemut  mit und hatten eine große Freude  daran. Vielleicht lag es an der Musik, es waren bekannte, aber eigenwillig interpretierte Gospels – also, eine fröhliche Musik, weit entfernt von jeglicher Marschmusik, nach der man stramm (ins Verderben) marschiert. Unser "Umzug" war eigentlich nur ein fröhlicher Haufen fröhlicher Leute.

Außer Heinz und Harry, die das schwere Transparent mit dem Bild der Geburtstagskirche trugen und sich beschwingt und tänzelnd dem Rhythmus anpassten, hatte nämlich keiner so recht Ahnung, wie eine solche Prozession eigentlich verläuft. Und woher auch? Wem steckt das schon im Blut?

Ich habe bei Daniel und Michelle in Pont-de-Beauvoisin einmal die Wanderung von Prozessionsraupen gesehen. Da bewegten sich unzählige Raupen in einer endlosen Kette über die Asphaltstraße, alle im gleichen Abstand und mit der gleichen Krümmung, Streckung, Krümmung und Streckung, die sie vorankommen lässt. Sie bildeten einen schwarzen geraden Strich, der sich über die Straße zog. Wem sie folgten und warum und wohin sie wanderten, war nicht auszumachen. Und als ich aus Sorge, dass das nächste Auto sie alle breit fahren würde, mit einem Stock ihre Route zu ändern versuchte und sie auf eine Rasenfläche abdrängen wollte, nützte diese Störung gar nichts, sie fanden wieder auf die alte Fährte zurück und verfolgten sie unbeirrbar. Es war eine wirklich faszinierende Prozession. Diese Art zu "prozedieren" ist ihnen angeboren, das ist ihre Natur.

In meinem Dorf ist es den Menschen auch angeboren, bei einer  Prozession mitzugehen. Schon die Kinder wissen genau, mit welchem Schritt sie gehen und welche Miene sie dabei aufsetzen müssen. Sie werden als Säuglinge mitgetragen, kennen die eigentümliche Zirkusmusik, werden als Kleinkinder mit den Heiligengewändern und -kostümierungen ausgestattet, dürfen später selber die Fahnen oder Blumen tragen und noch später als Jugendliche die schweren Statuen der Dorfheiligen.

In meinem Dorf geht man auch bei jeder Beerdigung stumm hinter dem Sarg her, oft kilometerweit zum nächsten Dorf – zuerst folgen alle die, die Blumengebinde tragen, dann die mit leeren Händen, und zwar geht man parallel rechts und links an der Straße, denn in der Mitte wird ja der Sarg getragen. Eine solche Beerdigungs-Prozession gleicht tatsächlich der der Raupen.

Dann sind da also die Mainacht-Prozessionen, die Dorffestprozessionen, die Beerdigungen, die Palmsonntagsprozessionen und alljährlich die "marchas populars", bei denen sich die Dörfer als Tanzgruppen oder in Szenen auf einem großen Platz darstellen. Für diese Aufzüge, "Volksmärsche" oder prächtigen Prozessionen wird allerdings extra geprobt und monatelang geplant. Die Choreographie und das Einstudieren übernehmen die Lehrer oder Kulturräte des Dorfes. Es ist phantastisch, was man da auf die Beine bringt! So viele junge schöne Menschen, die wunderschön – fröhlich und geordnet – daherschreiten mit Lichtern, Laternen, Lampions, Blumen, Musikkapellen, in bunten Trachten und Kostümen…  

Die ganze Nacht sitzen Tausende von Zuschauern im Halbrund am Fluss und bewundern die Prachtentfaltung, Anmut und Schönheit der Gruppen und ihrer Reigentänze und werden – je später, desto mehr – ganz trunken und glücklich vom Anblick der volkstümlichen Prozessionen.

Eine Antwort

  1. Volkmar schreibt:

    Warum geht man in den romanischen Ländern, wenn man dem Sarg folgt, rechts und links am Straßenrand? Eigentlich müsste man doch dem Sarg, wie bei uns Germanen, unmittelbar folgen.
    Die Antwort fand ich bei Marcel Pagnol, im Buch "Jean de Florette", das in der Provence spielt. Es gibt einen sehr schönen Film darüber, mit Yves Montand und Gérard Depardieu.
    Da stirbt ein knorriger Dorfbewohner, aber man gibt ihm seine geliebte Flinte mit. Der Sarg wird nun über holperiges Pflaster gezogen. Plötzlich könnte sich ja ein Schuss lösen: die Flinte zeigt auf die nachfolgende Trauergesellschaft. Also gehen sie schnell aus der möglichen Schusslinie.
    Im romanischen Kulturbereich ist man eben selbst bei einer Prozession doch noch sehr vorsichtig-individualistisch. Nur die Deutschen folgen in der Regel unmittelbar-direkt wie die Lemminge. Deswegen hat es ja auch in unserer Prozessionsgeschichte (Führer befiehl, wir folgen) schon so viele Tote gegeben.
    Herzlichen Gruß
    Volkmar

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