Ainda -noch

Verfasst am: 17. August 2002 von Barbara Keine Kommentare

Lieber Claudio,
einmal in meiner Schulzeit habe ich ein Gedicht von Georg Britting abgeschrieben, das mein Heimweh nach den Dörfern meiner Kindheit ausdrückte. Das war damals, als wir in Witten lebten, in einer Stadt im Ruhrgebiet. Diese Stadt bedrückte mich, und als wir einmal im Zeichenunterricht "Landschaft" malen sollten, malte ich einen grauen, trübsinnigen Hinterhof, mit hohen Backsteinmauern, verrußten Balken, abweisenden Mietshausfassaden, kleinen blinden Fenstern, hinter denen die Treppenhaustoiletten waren. Den ewigen Kohlgeruch, diesen stinkenden Arme-Leute- und Kloakengeruch, konnte ich leider nicht malen.

Das Bild hängt immer noch in der Schillerschule. Meine Cousine Renate, die dort einmal im Sekretariat wegen ihrer Nichte Patricia vorsprach, hat mir erzählt, dass sie diese Zeichnung dort hängen sah und sehr überrascht war, meinen Namen darunter zu entdecken.  

Diese Ruhrpottstadt, dieses Grau, dieses hässliche Häusermeer, die elenden Gerüche, die Lieblosigkeit der Menschen. Ich erinnere mich genau…

Damals ist mir Brittings Gedicht wie ein Trost vorgekommen. "Noch gibt es Dörfer, in denen der unverstörte Kalender vor sich hin zählt…"

Jetzt habe ich das alte Heft mit dem Gedicht wiedergefunden. Lies mal…

Und weißt du, alles, was ich dir von meinem Dorf in Portugal berichtete, schwingt mit in den Zeilen dieses Gedichts, erinnere dich nur, was ich dir über die müde Sonntagsstimmung erzählte, über das Hühnergegacker, den Nusswein, der jetzt gerade "ausgebrütet" wird, den Brennnesselgarten (heutzutagige Schreibweise mit 3 n), den Anbruch der modernen Zeit, den Verlust der dörflichen Traditionen und des Lebensgefühls, über die Verliebten in den Paradiesgärten und "das alte Leben", von dem ich mit den Nachbarinnen zusammen träume und das ich zu beschreiben versuche.

Und dann ist da eine weitere Verbindung: Die erste Liedersammlung der Gruppe "MADREDEUS" aus dem Wim-Wenders-Film "Die Reise  nach Lissabon" trägt den Titel "Ainda", das heißt also "Noch".

"Noch gibt es…"

Georg Britting:
Der unverstörte Kalender

Noch gibt es Mägde,
die das Kopftuch tragen, und die
silberne Kette am Mieder,
am Sonntag,
und die Knechte glänzen vorm Tor
in weißen Hemden.

Noch schneidet die Sense
und der Dreschflegel tobt auf der Tenne.
Die Henne
gackert eitel im Scheunenstroh,
der Bäuerin ist es Gesang!

Aber die Dorfstraße her
klirrt schon die Mähmaschine,
und der spinnenbeinige Garbenwender,
den Kindern ein Wunder!

Das alte Leben
geht in die schwarzen Täler hinein.
Die bescheidene
Sichel blitzt dort
am Stiegengeländer, neben dem Wetzstein,
die Bergbiene stapelt
den bräunlichen Honig im Strohgehäus,
und die Sonne brütet den süßen
Schnaps aus den Nüssen:
vorm Fenster glüht er im Glas!

Die Verliebten auch,
hungrig nach Küssen,
flüstern die alte Frage,
am Abend,
im Brennesselgarten,
die gern gehörte.

Der unverstörte
Kalender
zählt dort vor sich hin.

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