Froschkönig

Verfasst am: 13. Juli 2002 von Barbara Keine Kommentare

Lieber Claudio,
vielleicht erinnerst du dich noch an den jungen Brunnenbauer Mario, der damals so mutig in die Tiefe hinunterkletterte und den Motor für die Pumpe anbrachte. Wir haben ihn alle sehr bewundert, weil er so stark war, riesige Kabel tragen und mit wuchtigen Schlägen den Beton aufhacken konnte, um die Wasserrohre zu verlegen.
Das machte er alles alleine, lächelte bescheiden und begrüßte und verabschiedete sich mit Küsschen, als ob wir seine Verwandten seien. Er war der Mädchenschwarm der ganzen Umgebung mit seinen lasziven Bewegungen und seinen sanften Augen.

Im letzten Sommer wurde Mario begleitet von einem russischen Gastarbeiter, die zu der Zeit überall als Hilfskräfte angestellt waren. Der junge Russe sprach kein Wort portugiesisch und stand nur dabei und guckte zu. Später soll er dann wohl auf und davon gegangen sein. In die Stadt. Mich wundert das nicht.

Es gibt in Portugal sehr viele Hilfsarbeiter aus der Ukraine. Sie arbeiten fast alle auf dem Bau, denn gebaut wird hier ja wie wahnsinnig,  sie werden staatlich unterstützt, holen manchmal ihre Familie nach, bilden schon große Gemeinden, wo sie ihre Gottesdienste in russischer Sprache feiern, und singen in russischen Männer-Chören, die an die Don-Kosaken erinnern. Diese Arbeiter – es sind gebildete Menschen, viele Ingenieure, Akademiker – sind sehr beliebt, man kann sich auf sie verlassen, sie arbeiten ordentlich und sind weniger teuer als die portugiesischen Handwerker. So verschiebt sich das Sozialgefüge hier wie damals zur Zeit der Seefahrer und Eroberer der Neuen Welt. Die schickten das Gold und die Schätze ins Mutterland, und hier mochte keiner mehr arbeiten. Denk mal an die goldstarrenden überladenen Kirchen hier…  Heute will auch keiner mehr niedrige Arbeiten verrichten, Sklavendienst, Knechtschaft -  , es passt ja auch nicht mit der langen  guten Schulausbildung zusammen, die man seinen Kindern angedeihen lässt.

Aber ich wollte ja von Mario erzählen, der dann den schrecklichen Autounfall hatte und wochenlang im Koma lag. Was haben wir für ihn gebetet, wie sehr hat seine Mutter um ihn geweint!  Eines Tages besserte sich dann sein Befinden, er durfte nach Hause und fand sehr langsam wieder ins Leben zurück.

Nun kommt er manchmal und bringt die vor einem Jahr angefangenen Arbeiten zu Ende, das heißt: er versucht es, denn meistens kommt er nicht. Wir rufen an und hören von der Mutter, dass er schläft. Er scheint wirklich noch nicht aufgewacht zu sein. Er schwankt sehr bei seinem Gang und wirkt ganz merkwürdig verloren, so als sei er irgendwo in der Ferne, in einer Traumwelt. Seine Augen sind immer halb geschlossen und ohne Leben und Glanz, und seine Stimme ist tief und dunkel und sehr langsam, sie klingt wie damals, als er im Brunnen saß.

Und wenn ich eine Prinzessin wüßte und wenn die ihren goldenen Ball in den Brunnen werfen würde und wenn Mario ihr den dann heraufbringen würde und sie ihn dafür küssen müsste und wenn sie ihn dann aber energisch an die Wand werfen würde, dann könnte er vielleicht erlöst werden, falls das alte Märchen vom Froschkönig noch wahr ist.

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