Heinrichs Auge

Verfasst am: 9. Juli 2002 von Barbara Keine Kommentare

Lieber Claudio,
stell dir vor, in meinem Garten lacht mir Heinrichs Auge!

Heinrichs Auge oder Heinrichauge – , ich weiß nicht einmal genau, ob das der richtige Name ist. Also, Heinrichs Auge, das ist eine lange lange Geschichte.

Sie beginnt irgendwo in einer Zeit, in der es immer Sommer war, in der man barfuß durch den Wald lief und Walderdbeeren fand. Eigentlich können es nur sechs oder sieben Tage der Kindheit gewesen sein, aber die Erinnerung daran macht diese Augenblicke zu Schöpfungstagen. Es war immer Sommer. Wir liefen immer barfuß. Es gab immer Walderdbeeren.
An der Rückwand des Holzschuppens von Frau Brandt hatte die brandenburgische Oma ein kleines dreieckiges Gärtchen angelegt und mit einem grünen Zaun umgeben, ein Zäunchen aus grünen Holzlatten, deren zugespitzte Köpfe weiß bemalt waren. In diesem kleinen Garten wuchsen ein Fliederbaum, ein Busch Goldlack, ein paar Maiglöckchen und im Hochsommer einige Stauden mit goldgelben Pomponblüten. Das Gärtchen durfte keiner betreten, das war verboten – es konnte auch keiner betreten, denn es war gar kein Platz in diesem abgetrennten Dreieckchen. Und die Blumen durfte sowieso keiner pflücken. Deshalb meinte ich damals, es seien die kostbarsten Blumen der Welt. Die gelben Pompons, blühender Holunder, Schwalben, Kinder, die in einer Zinkbadewanne planschen und kreischen:  das war Dorfidylle – das war Sommer.

Mein ganzes Leben habe ich den Sommer gesucht. Immer, wenn ich irgendwo durch die Dörfer streifte, hielt ich Ausschau nach verbotenen Gärten mit diesen gelben Sommerblumen. Es gibt sie manchmal noch.

Es gab sie auch hier in meinem Dorf. Hier heißen sie "Blumen" oder zur besseren Unterscheidung "gelbe Blumen". Sie blühten im Garten von Dona Natalia Graça. "Die findest du schön?" fragte sie misstrauisch. Ich bat mir Ableger aus, immer wieder, weil die Schnecken … Aber Heinrichs Auge wollte nicht bei uns gedeihen. Eine Nachbarin tröstete mich und sagte, sie taugen sowieso nichts, und Dona Natalia riss wohl eines Tages alle bescheidenen bäuerlichen Pflanzen aus und folgte dem modernen Geschmack, der nur noch Strelitzien und Orchideen duldet. Heute schleppt keine Frau im Dorf mehr 45 Riesentöpfe mit zarten Avencas von einem Standplatz zum nächsten, besseren, sonnigeren. Heute hat keiner mehr Konservendosen und Blecheimer mit Geranien und Fleißigen Lieschen. Und es gibt nirgendwo einen grünen Holzzaun mit weiß bemalten Lattenspitzen.

Aber ich habe drei Pflanzen, – Import aus Mecklenburg, wo mir die Frauen sagten, diese alten Bauerngartenblumen heißen "Heinrichsauge" oder "Heinrichs Auge" – , sie stehen im Garten und wachsen über sich selbst hinaus und haben Knospen und werden bald blühen, und der Kalender wird stehen bleiben, eine Schöpfungswoche lang, wenn Heinrichs Auge leuchtet.

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