7. Rettung

Verfasst am: 2. August 2016 von Barbara 1 Kommentar

Rettung

Hinter den riesigen Fensterscheiben wiegen sich Palmen, wedeln Bananenpalmblätter und leuchten rote Hibiskusblüten. Darüber spannt sich ein blauer Himmel, in dem Möwen segeln.

Ich saß im Foyer des Krebszentrums Fundação Champalimaud in Lissabon, schaute auf den tropischen Urwaldgarten und wartete. Dieses Forschungszentrum ist von Spenden des Industriellen und Milliardärs António Champalimaud erbaut worden und mit den neuesten Apparaten zur Krebsbekämpfung ausgestattet. Es liegt am Ufer des Tejo an der Atlantikmündung und ist architektonisch von atemberaubender Großartigkeit. Zum Beispiel wird in den Fachzeitschriften die Glasbrücke zwischen den Gebäuden gerühmt, und von den medizinischen Möglichkeiten erzählen sich die Portugiesen wahre Wundergeschichten: “Wir haben in Lisboa dieses hochmoderne Krebsforschungsinstitut mit dem Linearbeschleuniger namens EDGE, der Tumoren entfernen kann, selbst wenn sie schon gestreut haben“. Sie sagten: “Nun bist du in den besten Händen! Jetzt wird alles gut. Wir haben die besten Ärzte und die besten Apparate. Also, die Stiftung Champalimaud ist deine Rettung, du wirst es sehen!”

Der alte Onkel Augusto erzählte mir begeistert von seiner Arbeit bei der Versicherungsgesellschaft Mundial Confiança unter der Leitung von Senhor Champalimaud und von den Zeiten damals vor der Revolution und der Entwicklung nach der Revolution. Er wusste viel über das Leben und über die Stiftung, die sich Fundação D. Anna de Sommer Champalimaud e Dr. Carlos Montez Champalimaud nennt, zu Ehren des Vaters und der deutschen Mutter Anna Sommer. Onkel Augusto meinte, dass ich mich glücklich preisen könne, in diesem Zentrum behandelt zu werden.

Ich pries mich glücklich, besonders nach der neuen Chemotherapie mit dem “richtigen” Medikament. Diese Therapie lag nun schon 4 Wochen hinter mir, und ich wartete gespannt und etwas bange, was der Lissabonner Onkologe dazu sagen würde.
Warum ließ er mich heute so lange warten?
Hatte er schlechte Befunde?
Hatte die Chemie wieder nicht gewirkt?
Konnte ich irgendetwas tun, um den Doktor herbeizuzaubern?
Wie könnte ich meine Ängste beseitigen?

Die roten Hibiskusblüten, der blaue Himmel und die Möwen im Sonnenlicht machten meine Ungeduld nicht geringer.
Eine Stunde.
Zwei Stunden..
Meine Angst wurde immer größer.
Ich wartete weiter.

Als ich zum ersten Mal in diesem Zentrum Hilfe suchte, ohne Termin, Überweisung oder Arztbericht, aber voller wilder Hoffnung, erzählte ich immer wieder allen vorbei kommenden Ärzten und Pflegern meine Geschichte: „Ich bin 3.000 km aus Deutschland hierher gekommen und suche einen Onkologen, und ich werde hier so lange sitzen, bis jemand mir hilft.“ Eine Dame, die neben uns ein ebook las und wartete, erhob sich plötzlich und sagte: „Ich habe jetzt einen Termin bei meinem Onkologen und ich werde ihn bitten, Sie stattdessen zu behandeln. Ich schenke Ihnen meinen Termin.“
Solche Großzügigkeit habe ich noch nie erlebt. Ich bekomme jetzt noch eine Gänsehaut und Tränen.

Kurz darauf kam damals „mein“ Retter und umarmte meinen Mann und mich wie liebe Freunde.

Aber heute kam er nicht.
Drei Stunden.
Vier Stunden…
Die Möwen kreisten im Himmelblau. Das Foyer leerte sich zusehends. Die Kaffeekannen wurden abgeräumt.
Ich seufzte resignierend. Vor uns lag noch eine lange Fahrt durch die Nacht. Wenn doch der Arzt endlich käme! Wenn doch endlich einer sagen würde: “Der Nächste bitte.”
Wann bin ich denn endlich dran?
Wie soll es überhaupt weitergehen? Würde es wieder heißen wie nach der letzten vergeblichen Chemotherapie in Deutschland: “So, das war’s, wir können nichts mehr tun. Austherapiert.”
Ob es überhaupt weitergehen würde?

Da öffnete sich endlich die Tür des Sprechzimmers, der Arzt trat auf den Flur heraus, winkte mich lachend herbei und rief laut: „Come on, Baby!”

Das war so lebensbejahend fröhlich-flott und komisch-unpassend: Alle lachten überrascht, als das kahlköpfige “Baby” im Rentenalter auf den Onkologen zu stürmte. Mein Warte-Frust war im Nu verflogen, und ich war schon fast gesund und plötzlich zwanzig Jahre jung.

Also, Baby, let’s go.

Eine Antwort

  1. Harry schreibt:

    “Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“

    Hölderlin, Patmos, 1803

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