Mein persönlicher Nachruf auf Günter Grass
Am Montag, dem 13. April 2015, ist Günter Grass gestorben.
Hagen hatte die Nachricht bei NDR-Kultur gehört. Er sagte: “Die gesamte politische und literarische Szene ist betroffen. Jeder gibt sein statement ab. Du kannst auch einen Nachruf oder eine Beileidsbekundung schreiben, sie werden zwischen den Musikstücken verlesen.”
Ich bin sehr erschrocken.
Ich war sehr traurig.
Ich wusste zwar keine Adresse, der ich meine Betroffenheit mitteilen konnte, aber es tat gut, eine Email an NDR-Kultur zu schreiben und Worte dafür zu finden, was mir der Schriftsteller Günter Grass persönlich bedeutet.
Er gehörte wie ein Verwandter zu mir, zu meiner Familie, zu meinem Leben wie mein pommerscher Großvater, den ich liebte und verehrte, oder wie mein jüngst verstorbener Bruder, der auch so wortgewaltig, streitbar und kantig war.
Günter Grass hatte sehr viel Ähnlichkeit mit meinem Großvater: Seine Gestalt glich der meines geliebten Großvaters aus Pommern, seine scharfe “preußische” Nase (wie beim “Alten Fritz”), sein Schnauzbart, seine kollernde Sprache, sein Zorn über Ungerechtigkeit, seine verbale Streitlust… Die Jugendfotos, wo beide noch dunkle Haare hatten, sahen sich sehr ähnlich.
Manchmal saß ich bei Interviews im Publikum und beobachtete Grass mit derselben Zuneigung, wie ich sie meinem Großvater als Kind entgegen gebracht habe: Er war einfach ein naher Verwandter aus meiner Heimat, ein Landsmann.
Da geschah einmal auf der Frankfurter Buchmesse etwas Eigenartiges: Günter Grass auf dem Podium beantwortete Fragen und gab Erklärungen ab. Seine Augen blickten nachdenklich in die Ferne und suchten einen Punkt, um sich dort festzumachen. Er konzentrierte sich dabei auf mein Gesicht. Er sah mich unverwandt an und ich fühlte mich ihm so verwandt. Natürlich sah er mich überhaupt nicht, aber er sah auch nicht durch mich hindurch. Ich wäre während dieses Podiumsgesprächs sofort aufgestanden und hätte ihn verteidigt oder in Schutz genommen, wenn jemand etwas gegen ihn gesagt hätte. Ich wäre für ihn durchs Feuer gegangen, aber er schaffte es leider ohne meine Hilfe.
Meine Sympathie konnte ich sehr gut im Deutschunterricht bei jeder Grass-Lektüre auf meine Schüler übertragen. Wir haben sehr früh “Die Blechtrommel” gelesen, auch wenn sie auf dem Index stand – wie liebe ich den Romanbeginn mit den Röcken meiner Großmutter auf dem Kartoffelacker! Wir haben “Katz und Maus” gelesen. Wir haben seine Gedichte gelesen. Wir haben diskutiert. Ich weiß, dass der Funke meiner Begeisterung auf viele Schüler übergesprungen ist.
Ich fand es auch selbstverständlich, dass Grass genauso wie ich seine Wahlheimat in Portugal fand. Dort arbeitete er eine Zeit lang schöpferisch als Grafiker, Bildhauer und Schriftsteller und gab dem Alfa-Literaturkreis meiner Freundin Barbara Fellgiebel durch seinen Besuch und seine persönlichen Beiträge außergewöhnlichen Glanz.
Natürlich habe ich es nie gewagt, ihn und seine schöne Frau auf eine Tasse Kaffee oder Tee einzuladen wie meine Freundin Barbara, aber ich habe in ihrem Hause später andächtig auf “seinem” Ehrenstuhl gesessen.
Ich bin sehr traurig und ich werde Günter Grass nicht vergessen, weil er zu meinem Leben dazugehört.