Um bocadinho
Ein Bekannter erzählte uns neulich, dass er in seiner Kindheit und Jugend in der Schweiz aufgewachsen ist und dort eine gute Ausbildung genossen hat. Danach kam er nach Deutschland und lernte zu arbeiten, gründlich und pünktlich zu sein. Dann lebte er in Frankreich und lernte gut zu essen, und jetzt ist er hier in Portugal und lernt … Geduld.
Ach ja, Geduld, Geduld – paciência, die portugiesischte aller Tugenden.
Als Patient lernt man sie jeden Tag neu – die paciência.
Stundenlanges Warten in den Wartesälen und –zimmern.
Warum dauert hier alles so lange? Dreht sich die Erde hier gemächlicher? Vergehen die Stunden hier langsamer? Haben die Menschen hier mehr Zeit?
Wann immer ein Patient aufmuckt, unruhig wird, sich bemerkbar machen möchte und fragt und fragt, wann es denn weitergehe, heißt es freundlich: „Warten Sie ein bisschen – um bocadinho. Setzen Sie sich hin – um bocadinho.“ Dabei lächeln die jungen Krankenschwestern hinreißend liebenswürdig und die Krankenpfleger strahlen den Störenfried sowas von bezaubernd an und zeigen ihre weißen Zähne (Warum haben diese junge Menschen so unverschämt schöne weiße Zähne?); “Bitte, warten Sie ein bisschen. Setzen Sie sich ein bisschen – um bocadinho:“
Ein bocadinho ist ein Biss-lein, ein kleiner Biss. Man beißt ein Stück von einem Brot oder einem Apfel ab und füllt damit seinen Mund. Unser Bisschen ist also ein kleiner Biss.
Die Schweizer sagen „ ein Mümpfeli“ – ein Mund voll.
Warum ist in Portugal ein „Mündchen voll“ so schrecklich viel? Um bocadinho dauert 3 Stunden – das habe ich vorgestern erlebt, nachdem der junge bildhübsche Arzthelfer zu mir gesagt hat: “Warten Sie ein bisschen – um pocadinho.” Damit ließ er mich stehen und eilte davon mit flatterndem Arztkittel. Kam nach 15 Minuten wieder, lächelte sein Pepsodent-Lächeln, wiederholte: “Bitte, noch bisschen…”, war wieder verschwunden und kam nach weiteren 20 Minuten wieder mit: “Mais um bocadinho – es dauert noch ein bisschen…” Und wenn ich nicht kurz darauf ohnmächtig zusammen gebrochen und abtransportiert worden wäre (um in einem Sessel im Wartezimmer zu warten), stände ich wohl noch immer da.
Ist ein Bisschen, ein Mümpfeli, in Portugal so viel, weil die Portugiesen den Mund gerne zu voll nehmen?
Und warum soll man sich immer hinsetzen?
Ich will mich nicht hinsetzen.
Ich will nicht ein bisschen stundenlang warten.
Ich habe nicht mehr so viel Zeit
Und ich erinnere mich natürlich jedesmal an Mutter Courage und ihr oder mein Lied von der “Großen Kapitulation”:
Sie erklärt einem jungen Soldaten, der sich beim Rittmeister beschweren will, wie so ein Beschwerdenträger abgeschmettert wird, wenn sein Zorn nicht lang genug ist und seine Wut verraucht. Mitten in diesem Gespräch werden sie von dem Schreiber angebrüllt: „Der Herr Rittmeister kommt gleich. Hinsetzen!“, worauf sich der junge Soldat sofort hinsetzt .
Mutter Courage: „ Er sitzt schon. Sehen Sie, was hab ich gesagt? Sie sitzen schon. Ja, die kennen sich aus in uns und wissen, wie sie`s machen müssen. Hinsetzen! Und schon sitzen wir. Und im Sitzen gibt’s kein Aufruhr.“
Dann singt sie das Lied von der Großen Kapitulation.
Deshalb will ich mich nicht hinsetzen – ich will nicht kapitulieren.
Wie doppelsinnig ist Mutter Courages lakonischer Satz: “Im Sitzen gibt’s keinen Aufstand.”
Es ist besser aufzustehen.
Ich will mich nicht hinsetzen.
Ich will auch nicht “um bocadinho” warten, sondern ich wünschte mir „Biss“ zu haben und möchte als Patient den Widrigkeiten des Lebens lächelnd die Zähne zeigen.