Na sombra do desejo – Im Schatten des Wunsches

Verfasst am: 19. November 2012 von Barbara Keine Kommentare

Na sombra do desejo
Im Schatten des Wunsches

“Was machst du denn beim Theater?”, fragte ich Isabel, die im Chor neben mir steht und sehr sicher die Altstimme singt. Sie hatte schon oft gesagt, dass sie nicht beim nächsten Konzert mitsingen kann, weil sie im Theater sei, und ich dachte, dass sie vielleicht als Schauspielerin, Souffleuse, Kostümbildnerin oder wenigstens Garderobenfrau im Teatro Aveirense unabkömmlich ist.
Sie spiele in einer Laienspielgruppe namens “Grupo Fantastico” mit, erzählte sie.
“Ja? Und welche Rolle?”
“Ich spiele eine Frau.”
Na, so was! Hätte ich mir fast denken können, obwohl bei einer fanstastischen Gruppe ja durchaus auch Verwandlungen möglich wären.
“Und was spielst du da? Was ist das für ein Stück?”
“Komm doch gucken”, sagte sie, “wir spielen am Wochenende, am Samstagabend um 21:30 Uhr in Lombomeão unser neues Stück:”
“Ja, da solltest du kommen, es lohnt sich (vale a pena)”, schaltete sich Dora ein.
“Gerne, ich komme gerne, wie heißt denn das Stück?”
“Also, es heißt Na sombra do desejo – Im Schatten des Wunsches, und ich spiele darin eine Frau, die wohnt im Haus bei einem Ehepaar, die kriegen Besuch von einer feinen Dame und das ist die Schwester von den der Ehefrau, und die Dame sagt, sie sei eine feine Dame, eine Lehrerin, aber das ist alles nicht wahr…”
“Sie ist eine Lügnerin”, erklärte mir Dora ernsthaft, während Isabel begeistert weiter erzählte, so beredt, dass ich nicht mehr ganz mitkam und nur dachte, was das wohl wieder für eine Klamotte für die Dorfbevölkerung sein wird. Wir haben ja solche Stücke schon oft auf dem “Hoftheater” und bei den Dorffesten reichlich beklatscht (und ertragen), bei denen sich das Publikum wie Bolle amüsiert und die schauspielerischen Naturtalente bei wackeligen Kulissen und gut gemeinten (als Steigerung von guten!!) Einlagen und Ansagen zum Durchbruch kommen.

Also wir fuhren hin, sagten der castanhada unseres Kirchenchores ab, denn man muss auch Prioritäten setzen!, suchten im verschlafenen, nächtlich dunklen Nachdardorf nach dem Festspielort, den wir sogar fanden, weil die Zuschauer in dieselbe Richtung strömten, und nahmen in dem überfüllten Saal (schon 20 Minuten vor Beginn, welch Wunder) auf kargen Holzbänken Platz. In den ersten Reihen saßen viele Kinder, 10- und 12järige, sie saßen sehr artig und erwartungsvoll da, es war absolut erstaunlich.

Auf der Bühne war eine armselige, mit wenigen Möbeln ausgestattete Wohnung zu sehen: zwei Zimmer, die nur durch einen Vorhang getrennt waren. Eine Eingangstür, ein Fenster auf die Straße und eine Tür, die ins Bad führte. Kein Bühnenvorhang. Kärgliche Beleuchtung. Schnarrende amerikanische Radiomusik. Louis Armstrong. Rock. Kein Bühnenvorhang.

Als das Licht im Zuschauerraum erlosch, pünktlich!!, betrat der Regisseur die Bühne und begrüßte das erlauchte Publikum mit einigen Erklärungen, dass das Stück New Orleans spiele und zwar in den 40-50er Jahren. Es zeige alle Probleme der damaligen Zeit auf: Alkohol, Armut, Drogen…

Aber wer ist denn nun der Autor?
Wir schlossen haarscharf: Wahrscheinlich hat der Regisseur (wie heißt der?) das Stück, das hier und heute in Portugal spielt, nur mal eben nach New Orleans verlegt, damit einen die brandaktuelle Problematik nicht erschlägt. Denn irgendwelche Wünsche haben wir doch immer und haben wir alle, besonders jetzt in Krisenzeiten, die wie ein Schatten über Portugal liegen.

Also, jetzt fängt es an, denn es stehen da vor der Bühne die Nachbarinnen in unmodernen Röcken und Blusen (Hallo, Isabel!) und tratschen. Und da kommt eine feine blasse Dame in einem weißen Kostüm, mit einem weißen Hut und viel unechtem Schmuck und zwei Reisetaschen daher und fragt nach einer Familie, die sie besuchen will. Aha. Während sie in deren Stube sitzt und wartet, entdeckt sie eine Whiskey-Flasche, aus der sie sich einen Schluck nach dem anderen genehmigt, was wahre Lachsalven hervorruft. Heißa, das kennen wir: ein Säufer torkelt auf der Bühne herum, es ist wie im richtigen Leben, komisch, wie die Frau ihre Gier zu verbergen versucht, echt komisch und gut gespielt – und alle Kinder lachen. Sie wirkt so unpassend in dieser Umgebung und lächerlich in ihren eleganten Kleidern und mit ihrem dämlichen Getue, aber sie spielt sehr gut, obwohl diese junge Frau etwas zu gesund und stabil wirkt, eine reiche wohlgenährte portugiesische Tochter aus gutem Hause. Sie beherrscht lange Zeit die Bühne mit ihren Monologen, das ist eine beachtliche Leistung.

Aber was soll dieses Stück? Für die Kinder ist es bestimmt nicht das Richtige. Für die Kinder ist das doch erschreckend (oder vertraut?), wenn die Männer am Tisch Karten spielen, rauchen, Bier trinken, sich rüpelhaft benehmen, sich untereinander schlagen, Geschirr zerdeppern, ihre schwangere Ehefrau schlagen, betrunken herumtoben, sich nach der Gewaltszene wieder mit der Ehefrau versöhnen… Und die angereiste Dame mit den Basedow-Augen steht immer so verloren und flatterhaft-nervös herum, man ahnt schon, dass das nicht gut ausgeht – aber es gibt so viel zu lachen. Ein Gelächter und Gekicher folgt dem andern. Schade, dass wir die portugiesischen Wortspiele nicht verstehen, – es muss sehr lustig sein, das Theatervolk ist total begeistert und klatscht begeistert. Na klar, sie kennen ja auch die Burschen da oben auf der Bühne, den Carlos und den António, die sich da selbst spielen, mit zuviel Kraft und zu viel Bier und zu wenig Bildung.

Was will diese vornehme abgewirtschaftete Dame im Tüllkleid eigentlich bei diesen Maloochern und Primitiven im Prekariat? Sie sucht irgend etwas, das sie hier doch nicht findet, sie sucht einen Menschen, sie sucht Liebe, sie hat Sehnsucht nach Menschlichkeit… Ja, ich glaube, jetzt weiß ich, wie man “Na sombra do desejo” übersetzen muss – dunkle Sehnsucht. Da gibt es doch ein amerikanisches Stück…, warte mal… Ich erinnere mich: “Endstation Sehnsucht”.
Das könnte es sein, wenn es nicht zu portugiesisch wäre.
Das ist vielleicht dieser Film mit Marlon Brando, der Film, den der portugiesische Lehrer und Leiter der Laienspielgruppe total adaptiert und nach seinem Geschmack und Verständnis zurecht geschneidert hat. Die schwangere Frau heißt Estella, der brutale Sexprotz von Ehemann heißt Kowalski – naja, Polen gibt’s überall, die Männer sitzen wirklich so herum im Dorf-Café, bloß zum Rauchen gehen sie jetzt immer raus, das Bier ist Superbock und die Lampe typisch portugiesisch. Und das schreckliche Geschehen vor unseren Augen ist witzig, urkomisch, zum Lachen, albern, aber genau so, wie wir das täglich im Fernsehen erleben können, wenn Herman seine Faxen macht.
Als zum Schluss ein Nervenarzt und eine Krankenschwester auf der Bühne erscheinen und die total verstörte und zerstörte, vergewaltigte junge Frau überreden, in die Heilanstalt mitzukommen, kennt das Vergnügen keine Grenzen. Der Irrenarzt ist der Liebling des Dorfes und winkt fröhlich seinem Publikum zu

Mich friert, –
das Blut gefriert mir in den Adern, es ist jetzt fast 12 Uhr nachts, von dem menschlichen Elend, das man uns da vorführte, ist mir sehr schlecht,
aber ich bewundere die wirklich sehr gute Leistung der Schauspieler.

Da haben die doch wirklich mit “Grupo Fantastico” das Schauspiel “A Streetcar named Desire” (deutsch: Endstation Sehnsucht) von Tennessee Williams einstudiert und in ihrem kleinen Dorf auf die Bühne gebracht. Und gespickt mit portugiesischen Witzchen und Slapstickszenen und einem cafézinho sowie dicken Kuchenstücken in der Pause war es ein voller Erfolg. Endstation Portugal.

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