Kabinettstück

Verfasst am: 12. Oktober 2012 von Barbara 1 Kommentar

Kabinettstück

Der große lindgrün gestrichene Raum ist in helles “Tageslicht” getaucht, das die Neonröhren an der Decke spenden. Es ist von morgens bis abends dieselbe unwirkliche Beleuchtung, eben künstliches “Tageslicht”. Der wirkliche Tag mit Sonne oder Regen, Morgendämmerung oder Abendrot, Frühlingsduft oder Sturmwind bleibt draußen und kommt hier nicht vor.

Milchweiße Vorhänge teilen sieben Kabinen ab. (Um die Farbe der hellen Vorhänge zu beschreiben, fiel mir weder champagnerfarben, creme, oder butterfarben noch zart- oder pfirsichrosa ein, sondern einfach nur “cool milchweiß”.)
Also sieben gabinetes. Und in jedem der Kabinette lebt, redet und bewegt sich etwas oder jemand. Man sieht nichts. Gleich neben der Eingangstür rechts steht ein Tisch, an dem zwei ältere Männer sitzen, die sich laut unterhalten, als feilschten sie um den Eintrittspreis. Sie haben ihre Arme auf den Tisch gelegt und halten Knetmasse oder bunte Bälle in den Händen, und sie machen Scherze, die der Unterhaltung des ganzen Saales dienen sollen und über die sie selbst am meisten lachen.
Drei junge Leute in grünen Hosen und weißen Polohemden huschen schnell und leichtfüßig herum, reißen die Vorhänge zur Seite oder verschwinden hinter einer Stofffalte und tauchen überall und irgendwo auf.

Ich liege auf einer weiß bezogenen, harten Liege und starre in das Neonlicht an der Decke, während ein elektrischer Kompressionsapparat zu meinen Füßen ächzend und stöhnend arbeitet, die Luft aufsaugt, anhält und zischend wieder ausstößt. Um meine Kabine herum Stimmengewirr, Lachen, jetzt schält sich eine Stimme heraus, eine Frau erzählt eine Geschichte, in der bekannte Begriffe vorkommen wie Hochzeit, Vorspeisen, Finanzkrise. Aus allen Kabinettchen schwirren Kommentare durch den Raum. Und dann ist plötzlich das Wort Milchreis da. Auf den Begriff konzentriert sich das auf und ab ebbende Stimmendurcheinander.
Eine Männerstimme: “Ich mag keinen Milchreis – ”
Eine jüngere Frau: “…ich mache ihn mit Zimt – ”
Eine Frau: “Ich esse jede Woche Milchreis – ”
Eine alte zittrige Stimme: “…ich mag Milchreis …”
Ein hübsches junges Gesicht schaut durch einen Spalt des Vorhangs und fragt mich: “Mögen Sie auch Milchreis?” Und eine Hand streckt mir einen Becher mit Milchreis entgegen. Na schön, aber ich habe noch nie im Liegen Milchreis gegessen (Vielleicht sollte ich üben, im Liegen zu trinken und zu essen, das kann man bestimmt einmal im Leben gut gebrauchen.), also schiebe ich die Kostprobe ans Kopfende meines Surfbretts. Eine Grabbeigabe. Eine Opfergabe.

Ich denke an Carla, die in den Sommerferien viele Tage in einem Krankenhaus ihres Ferienlandes zubringen musste und kein Wort von dem freundlichen Geschnatter der Krankenschwestern und den ernsten Reden der Ärzte verstand. Nicht nur, weil diese “in fremden Zungen” sprachen, sondern weil ihre Krankheit sie daran hinderte, alles genau wahrzunehmen. Auch um ihr Bett herum wurde damals ein Vorhang gezogen, ein hellblauer, der sie abschirmte und gleichzeitig isolierte. Irgendwie auf einer hellblauen Wolke im freien Fall klingen alle menschlichen Worte und Wörter fremd und diffus.

Ich liege in einer milchweißen Blase und surfe durch die Zeitlosigkeit.

Wo bin ich hier eigentlich?
Dieses surrealistische Bühnenbild…
Dieses permanente undifferenzierte Tageslicht…
Die Stimmen – fremd und wirr…
Meine Füße und der schwer arbeitende, schwer keuchende Kompressionsapparat, der wie ein dicker alter Mann beim Bergsteigen pustet…
Und dazwischen die Stichworte “Hochzeit, Vorspeisen und Milchreis”.

Physiotherapie in einer Klinik in Portugal.
Portugiesisch geschrieben: FISIOTERAPÍA, – diese Schreibweise erklärt doch alles. Man schreibt einfach, was man hört, man schreibt ohne y und ohne ph oder th. Aber wie schreibt man, was man darum herum noch alles hört?
Surrealistisches Theater.

Wenn die Vorstellung beendet ist, wird der Vorhang beiseite gezogen und ich darf wieder auf eigenen Beinen stehen. “Der Vorhang auf und alle Fragen” … sind plötzlich beantwortet. Die Szene wird begreifbar und alltäglich: Die beiden Männer, die ihre gelähmten Finger bewegen, die ältere Dame, die hoheitsvoll sitzend bei Schultermassage in ihrem Kabinett Hof hält, die fröhlich zwitschernden Therapeutinnen, die wohl hundertmal am Tag fragen: “Wie geht es? Alles gut? Geht es gut?” Sie sagen mindestens dreihundertmal “dabei-dabei”, meistens als Frage “dabei?” Sie reden alle Patienten mit Vornamen an, das bringt so eine familiäre Atmosphäre und macht die Menschen in den Kabinetten einander gleich, ohne Unterschied und ohne “Ansehen der Person”. Und sie verteilen die essbaren Geschenke der dankbaren Patienten redlich auf der ganzen Bühne. Jeden Tag wird einem plötzlich ein Stück Schokolade oder ein Keks in den Mund geschoben oder, wie gesagt, Milchreis.

Eine Antwort

  1. Barbara schreibt:

    Liebe Barbara, du solltest nicht üben, im Liegen zu essen und zu trinken, denn du wirst es nur einmal im Leben gebrauchen können, und zwar zum letzten Mal. Die Gefahr, sich zu verschlucken und zu ersticken, ist zu groß. Wie leicht rutscht ein Kekskrümel in die Luftröhre. In der Krankenpflege werden die Auszubildenden schon früh darauf hingewiesen, dass es verboten und gefährlich ist, liegenden Patienten Speisen oder Flüssigkeiten einzutrichtern. Du ahnst nicht, wieviel Todesfälle es bei älteren Patienten gibt!
    Hüte dich vor Milchreis, wenn du liegend durch die Zeitlosigkeit surfst! Das raten dir Birgit und Michael.

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