Mit Pep und Schwung zum Jahresbeginn
“Denn jedem Anfang wohnt ein Zauber inne….” Die erste Woche im neuen Jahr ist voller Überraschungen und Neuigkeiten gewesen, wie sie erstaunlicher nicht sein können und wie wir sie nicht erwartet hätten, überhaupt nicht.
Pläne, Neuerungen, Veränderungen, neue Erfahrungen, Aubruchstimmung, Zukunftsaussichten, Termine und sogar Zusagen für weitere oder gar für früher gemachte Termine, Begegnungen…
Eigentlich misstraue ich Siegesmeldungen immer und verbreite sie möglichst gar nicht, aber ich erwähne doch den Besuch im Museum in Aveiro mit der sensationellen Ausstellung des Malers Fernando Gaspar und seinen großartigen Bildern von menschlichen Köpfen, Gesichtern und Körpern. Und ich erwähne voll Freude das Instituto de Educação e Cidadania in Mamarrosa, wo der Direktor eine Autorenlesung, eine Ausstellung der Strandgutcollagen und einen Konversationsclub für Deutsch organisierte, als sei das die selbstverständlichste Sache der Welt. Ich brauchte nur noch zu nicken und danke zu sagen, okay. Und die pünktliche Lieferung des Kaminholzes, wer hätte das gedacht? Und ein Besuch beim kranken Nachbarn, der als Rehapatient wieder zuhause ist. Und der eine und andere Silberstreifen am Horizont, also, sowas…
Aber am erstaunlichsten war das Neujahrskonzert am Samstagabend um 18 Uhr in einer Dorfkirche hier in der Nähe. In der Kirche war vorher bei der Messe um 17 Uhr schon das ganze Dorf versammelt. (Ob die wohl am Sonntagmorgen alle wiederkommen?) Die Straße stand voller Autos und an der Tür drängten sich die Menschen, nicht nur alte Omas und Opas, sondern eine bunte Menge, in Pullovern und Strickjacken und Holzfällerhemden. Der Gesang war müde und schleppend. Aber beim Friedenskuss kam Bewegung in die Leute, man grüßte, küsste sich, schüttelte die Hände, auch uns, die wir doch völlig fremd waren. Ja, der 14jährige Junge vor uns drehte sich um und küsste mich fremde Frau auf beide Wangen. Bei der Abendmahlzeremonie aber bewegten sich der Priester und die zwei Messdienerinnen eher wie Leute beim Abwasch zuhause in Mutters Küche als bei einer feierlichen Handlung. Die Gesten – das Reinigen des Kelches, das Zusammenfegen der Brotkrumen – waren so alltäglich und abgenutzt wie der Gesang, lustlos und müde wie die gemurmelten Worte und die Bewegungen des Padre. Schließlich gingen die Leute “im Frieden” hinaus.
Einige blieben aber sitzen, denn schließlich hatte der Priester ja ein Konzert angekündigt – das war Gottes Wort.
Jetzt baute der Chorleiter sein Elektro-Keyboard auf (“Was? Das ist der Dirigent?”), es war 18 Uhr und im Hintergrund warteten die Sänger: Ältere Männer mit schwarzen Umhängen und schwarzen Hüten und mit dicken Holzstöcken bewaffnet und doppelt so viele ältere Frauen in schwarzer Kleidung und mit den landesüblichen Kopftüchern. (“Wie? Ist das etwa der angekümdigte Chor? Das war kein Unterschied zu den Gemeindebesuchern.)
Eine Frau kam singend aus der Sakristei, umschritt den Altar und stellte sich auf den Stufen hin: “Oh, mein geliebtes Jesuskind – o meu Menino Jesus”, sang sie mit schöner Stimme in einer weichen lieblichen Melodie. Ihr folgte ein Mann, der dasselbe sang und sich nach seinem Solo auch vorne hinstellte. Noch eine Solostimme, noch eine Solostimme, dann kam der ganze Chor und ging singend hinter dem Altar herum und baute sich auf. Welch harmonischer Gesang! Dazu spielte der Dirigent voller Schwung und mit noch nie gesehener Hingabe und Dramatik noch nie gehörte mitreißende Tonfolgen, und noch nie habe ich einen solchen jungen Dirigenten erlebt: Er hatte sich eine schwarze Jacke mit Hunderten von Silberknöpfen angezogen, eine schwarze Locke fiel ihm in sein Gesicht, er ruderte elegant mit den Armen und sein ganzer Körper schwang dabei mit, er sprang hoch, bog sich zurück, schloss die Augen, rauschte über die Tasten, kroch förmlich mit seinen Regie-Anweisungen in den Chor hinein. So stelle ich mir den heißblütigen “Zigeunerbaron” neben der “Czardasfürstin” vor. Die Sängerinnen erklärten uns nachher, das mache ihnen allen so viel Spaß und der Dirigent sei ein garoto brasileiro aus Ipanema.
Er motivierte seinen Chor, sich zu bewegen, sich zu drehen, zu marschieren, die Richtung zu ändern, mit Tüchern zu winken und Freude und Lebenslust auszustrahlen. Und als die Frauen ihre Altweiberkopftücher abrissen und ihre Haare schüttelten, waren sie plötzlich 20 Jahre jünger und hübscher. So wie in dem Film mit Whoopi Goldberg “Sister act”, als die Nonnen plötzlich anfangen zu swingen, zu klatschen und zu lachen.
Beim Gospel “Nobody knows the trouble I’ve seen” war dann das Publikum so weit, alle hatten Feuer gefangen, waren Feuer und Flamme und klatschten mit. Auch die alten Mütterchen, die aus Versehen dageblieben waren und anbetend in unserer Reihe gesessen hatten, ließen ihr Gebetsblatt fallen und klatschten stehend im Takt mit. Ein kleiner Junge tanzte begeistert und klopfte so gekonnt den Takt, als habe er lange schon die Songs mit dem Chor geprobt.
Die Begrüßung, die Vorstellung und die Erklärungen geschahen in einem heiteren Dialog am “Klavier” und mit dem Dirigenten, dem Publikum, einzelnen Sängern zusammen, völlig gelöst, frei, beschwingt. Super, so geht es doch auch! “Das Frühjahr kommt, wach auf, du Christ…”
Wenn wir die Kirche erneuern möchten, sollten wir tatsächlich “auf dem Dorf” anfangen, da ist so viel Potential, Offenheit, Sehnsucht nach Leben,
ich habe es gemerkt.