Gestern sah ich im Vorüberfahren in Sosa ein wunderschönes stimmiges Bild, das für mich "Portugal" bedeutet. Entweder habe ich dieses Bild schon einmal gesehen, vielleicht auch nur als Gemälde, oder es ist ein archetypisches Portugal-Bild, der Urtypus von "meinem" Portugal, in der Seele eingeprägt und in meinen Vorstellungen und Träumen vorhanden. Wie kann man sonst erklären, dass im sekundenschnellen Vorbeisausen diese Szene in allen Einzelheiten überdeutlich wahr- und aufgenommen wurde:
Eine alte Dame im verblichenen Morgenrock und mit großem Strohhut an der Gartenpforte ihres Anwesens.
Es war später Vormittag, diese müde schläfrige Stunde nach dem Frühstück und dem Zeitungslesen, völlig undefiniert, noch nicht Mittag, aber auch nicht mehr Morgen, die Zeit, wo man zur Uhr schaut und überlegt, ob man "Bom dia" oder "Boa tarde" oder überhaupt grüßen soll.
Der Park an der Straße scheint eines der ältesten Grundstücke in Sosa zu sein. Hohe und seltene Bäume ragen über die graue Mauer, die mannshoch den weitläufigen Garten umgibt. An seinem nördlichen Ende befindet sich das grüne schmiedeeiserne Tor, hinter dem eine Anfahrt zum Wohnhaus ist. Ich würde gerne einmal durch diese Gitterstäbe an der Pforte schauen und versuchen, Menschen im Garten zu entdecken, vielleicht den Besitzer des Hauses oder einen Gärtner, vielleicht einen großen Hund, ja, auf jeden Fall ist es ein großer würdevoller Hund, vielleicht aber würde ich nur einen Liegestuhl, einen Sonnenschirm, einen Tisch mit herabgewehtem Tischtuch, ein aufgeschlagenes Buch auf einer Steinbank, einen ausgetrockneten Springbrunnen erspähen. Aber eigentlich ist die Mauer so grau, so hoch und abweisend, dass man nur schnell daran vorbei fährt. Das heißt: nein, seit der letzten Wahl trägt sie einen aufgesprayten Spruch, traumschön wie jede Verheißung: WIR MACHEN TRÄUME WAHR oder REALISIERE DEINEN TRAUM.
Vielleicht brachte mich das auf solche Gedanken. Hinter solchen Mauern, hinter solchen schmiedeeisernen Toren und inmitten dieses alten verwitterten Baumbestandes muss es ein Geheimnis geben.
Und was ist das für ein riesiges graues Haus? Ein Palast. Ein ehemals prächtiges großes Haus. altersgrau, mit blinden dunklen Fenstern, mit verschlossenen Fensterläden, mit verschlossenen Türen. Wer wohnt hier? Wer fährt hier vor, hält an und geht die lange Anfahrt vom Tor bis zum Haus?
Und da sah ich nun gestern diese alte portugiesische Dame, die eine Minute lang vor das Tor getreten war, wohl um die Post zu holen.
Sie kam aus einer anderen Welt, aus einer ganz vergessenen Zeit. Sie trug einen langen Morgenrock aus chinesischer Seide, dunkelgrüne Farne und Blattranken auf dem gelblichen Untergrund.
Dazu diesen Sonnenhut.
Sie musste in ihrem Garten oder auf der Terrasse am Frühstückstisch gesessen haben und danach zum Tor gegangen sein, unter den Koniferen, an den Beeten entlang. Eine wirkliche Dame. Nicht sehr alt, denn das Haar, das unter dem Strohhut zu sehen war, war dunkelbraun und sehr gepflegt frisiert.
Nein, das war keine verwirrte Greisin mit flatternden weißen Haarsträhnen.
Und ihr Gesicht war deutlich zu sehen. Es trug einen sehr vornehmen, etwas erstaunten, etwas abweisenden oder befremdeten Ausdruck, als wollte die Dame sagen: Ach, so sieht es hier draußen in der Welt aus, soso, damit möchte ich jedoch nichts zu tun haben.
Sie sah so aus, als wollte sie sagen: Wer hat die Klingel meiner Gartenpforte berührt und mich hier ans Tor gerufen, heute, wo mein Personal nicht zugegen ist?
So war ihr Blick. So war ihr Mund verzogen. So stand sie am Tor und schloss es in derselben Sekunde sorgfältig wieder zu.
Und alles wirkte ganz müde und jenseitig, wie das Spiegelbild hinten auf dem Glasgrund eines verstaubten Spiegels. Und ich müsste eigentlich lauter verstaubte, antiquierte und verschrobene Wörter aus alten Courths-Mahler-Romanen wie "Im Hause des Kommerzienrats" oder aus der "Gartenlaube" hervorholen, um dieses Bild zu beschreiben. Oder vielmehr Pessoa und Eça de Queiroz bemühen.
Und es stimmte alles.