Helen am Meer

Verfasst am: 9. Juni 2005 von Barbara Keine Kommentare

Mit weit ausgebreiteten Armen, ausgestreckten Händen und abgespreizten Fingern hüpfte das kleine Mädchen ins Sonnenlicht und den Wellen entgegen.
Ich kann dieses Bild gar nicht mehr vergessen.
Noch nie habe ich solchen Jubel über den brausenden Atlantik gesehen wie bei dieser Kleinen-und-schon-so-Großen. Sie hatte sich ihre grünen Hosen hochgekrempelt, die langen dunklen Haare wehten im Wind, der sehr kräftig blies, und immer wieder lief sie auf die anrollenden Wellen zu, versuchte ihnen standzuhalten, versuchte ihnen zu entkommen und kam atemlos glücklich zurück: "Diesmal hat sie mich nicht nass gemacht!"
"Huch, eben war es aber knapp."
"So, nun bin ich ganz nass, aber das macht nichts."
"Jetzt habe ich etwas Wasser geschluckt, das ist ganz salzig, warum ist das Meerwasser so salzig?"

Ja, wie kommt das Salz ins Meer?
Wer hatte das je gefragt in allen den Jahren, in denen wir hier am Meer wohnen? Wer hatte jemals so gejubelt über die Schaumkronen, die Wellen, das Licht, den Wind, den weißen feinen Sand?
Wer hatte so wie Helen versucht, die Sonne und den Ozean zu umarmen?

Wir standen am Strand und genossen den Wind, die immer näher kommenden Wellen, das herrliche Sonnenlicht, die Weite, die Einsamkeit, den Geruch.
Hier an diesem Strand, an "unserem" Strand – er ist tatsächlich eines der wenigen "Reservate" in der zuzementierten Welt – muss man sehr ehrlich sein, weil die gewaltige Schönheit der Umgebung, diese Urkraft der Natur, jede Rolle, die du dir vielleicht für dein Leben ausgedacht hast und einstudiert hast, zunichte macht. Da hält sich kein Makeup, da hält sich keine schön gestylte Frisur, kein elegant drapiertes Kleid, kein schicker Anzug. Der Wind zerrt an dir herum oder die Sonne zwingt dich, alles abzulegen. Und für wohlgesetzte Worte und tiefschürfende Gedanken ist der Strand ebenfalls nicht geschaffen, weil das Brausen und Rauschen alles übertönt, weil der Wind alles wegfegt, weil in der Sonne alles zerschmilzt.

Wer bist du eigentlich?
Und bist du die, die du sein solltest?

Vielleicht war es das an diesem Kind, was mich am meisten beeindruckte. Helen war, die sie war. Sie war, die sie sein würde. Und sie war vollkommen glücklich.

Ein ganz normaler Nachmittag und Besuch am Strand. "Als Nachtisch fahren wir jetzt ans Meer!", hatte es geheißen.  Die sechsjährige Helen hatte begeistert ihre soeben erworbenen (orange mit weißen Hasenohren) Plastiksandalen und ein Handtuch eingepackt, den neuen Sonnenhut aufgesetzt, und wir waren losgefahren. Am Strand baute Helens Vater für sie schnell eine Sandburg mit einem Kanal zum offenen Meer, so dass die ansteigende Flut in kurzer Zeit das Bauwerk erreichen, umspülen und vernichten musste. Trotz des zu erwartenden Untergangs und der sichtbaren Vergänglichkeit schmückte die Mutter diese Pyramide mit den Namen HELEN und LUA AZUL, Steinchen für Steinchen. Rührte mich das nicht noch mehr?

"Es kommt, es kommt!", jubelte Helen und verfolgte die Wellen, die schon den Fuß der Sandburg beleckten. "Das Meer kommt!"
Dann hüpfte sie dem abrollenden Wasser nach, hüpfte mit ihren Kinderbeinen in aufgekrempelten grünen Hosen ins helle Sonnenlicht hinein, weit ausgebreitete Arme, ausgestreckte Hände, abgespreizte Finger, und sie jubelte: "Ich komme, Meer, ich komme!"

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