Nach Mecklenburg zum Weinen

Verfasst am: 18. Oktober 2004 von Barbara 1 Kommentar

Nach Mecklenburg komme ich um zu weinen

Lieber Claudio,
am Freitag entdeckte ich auf den kahlen Feldern in Vorpommern noch eine graue Schar von Kranichen, die auf ihrem Flug nach Süden dort rasteten. Sie standen da ordentlich aufgereiht wie abgeblühte, verregnete Sonnenblumen. Als wir näher kamen, sahen wir, dass sie allerdings gar nicht aufgereiht da standen, sondern über das ganze Feld verteilt waren. Graue abgeblühte Blumenstauden.
Nachzügler.
Denn die großen Züge sind längst vorüber.
Auch die Nächte sind vorbei, in denen die Wildgänse mit ihrem hellem Schrei über die schlafenden Dörfer flogen.  Endlose Züge.
Auf der Südwestachse.
Heimwärts.
Wie gerne wäre ich mitgeflogen.

4 Wochen lang sah ich den Gänsen und Kranichen nach.
Und hatte das Nachsehen.
Saß auf der Bettkante meines Krankenhausbettes, weinte vor Heimweh und suchte eine verständliche Antwort auf die Frage der Nachbarn in meinem portugiesischen Dorf: „Warum fährst du denn überhaupt nach Deutschland?“ Sie hatten ja längst begriffen, wie schwer uns das Kofferpacken und Abreisen jedes Mal wird. „Bleibt doch hier. Was wollt ihr denn in Deutschland?“

Jedes Mal erwartet uns in Mecklenburg eine Situation, die uns veranlasst, am besten gleich wieder umzukehren. Pleiten, Pech und Pannen, plötzlich auftretende Notfälle,  plötzlich hereinbrechende Krankheiten, eingestürzte Balken voller Hausschwamm, der verwilderte Garten, der sterbenskranke Hund, Muttis trauriges einsames Grab auf dem Friedhof, Erinnerungen an schmerzliche Erfahrungen, das verlorene Pommerland immer vor den Augen – Enttäuschungen über Enttäuschungen. Und vor allem, dass uns niemand erwartet.
Ich glaube, das ist am schlimmsten.

Um meinen Kummer zu relativieren, – was ist er schon, verglichen mit diesem schweren Schicksal ? – las ich den Dokumentarbericht der persischen Journalistin Siba Shakib  „Nach Afghanistan kommt Gott nur noch zum Weinen – Die Geschichte der Shirin-Gol“. Und seitdem habe ich eine Antwort auf die  Frage, warum wir denn immer wieder nach Mecklenburg fahren:
Nach Mecklenburg fahre ich zum Weinen.

Vielleicht versteht das jemand, der saudade kennt.

Eine Antwort

  1. Töchterchen schreibt:

    Was solldas heißen? "…vor allem, dass uns niemand erwartet…"
    Oh ich weiß da aus dem Stehgreif gleich vier Menschen die euch erwarten. Ja, vieleicht nicht direkt in Güstrow, aber in Deutschland.

    Im Übrigen ist es sehr gut, wenn man einen Platz zum weinen hat und wenn man dem Weinen mal Platz lässt.

    Weinen ist wie Frühlingsregen. Wenn ich über etwas weinen kann, dann ist es schon fast wieder gut. Da löst sich der Schmerz, der Kummer und fließt aus mir raus. Und auf dem feuchten Grund kann man neuen Samen säen. Wenn ich nur wütend, sauer oder verschmollt bin, dann ist das schlecht, denn es verstopft. Also, gut wenn man einen Ort zum weinen hat.

    Noch besser – wenn man einen Menschen zum weinen hat. Eine Schulter, an die man sich anlehnt, eine Hand die einen streichelt, die einem mit einem Taschentuch die Tränen abwischt.

    Warum sagen wir immer: weine nicht – warum nicht öfter – weine nur, weine dich aus, ich tröste dich.

    Kummer braucht Raum.

    Ps 56,9 Zähle die Tage meiner Flucht, sammle die Tränen in deinem Krug; ohne
    Zweifel, du zählst sie

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