Unsere Kirchenchorprobe findet am Freitagabend um 21 Uhr 30 statt.
Offiziell.
Wir gehen vorsichtshalber erst nach der Übertragung des Fußballspiels los, wohl wisend, dass sonst noch niemand da ist. Die Straße ist menschenleer und mondbeschienen. Vor der Kirchentür wartet Rosa, die Küstersfrau, späht die Straße hinauf und hinunter und ruft den Schatten zu, die sie heranwanken sieht: "Ihr seid die ersten, sonst ist noch niemand da!" Es ist aber doch schon einer da: Rogerio sitzt schon seit einer halben Stunde in seinem Auto vor der Kirche, hat laut die Dudelmusik angestellt und wartet.
Wir stehen herum und reden über Fußball. Alle großen Nationen sind jetzt rausgeflogen, die meisten Trainer sind zurückgetreten, das Fußballfieber hat auch schon die portugiesischen Frauen erfasst, sie reden über ihre Spieler, als seien es Verwandte. Sind bestimmt auch Cousins, irgendwie, denn hier ist ja jeder mit jedem verwandt. Um halb 11 steigt Rogerio aus seinem Auto und sagt: "Der Chorleiter hat angerufen und gesagt, er kann heute nicht kommen, er hat Halsweh. Ich gehe jetzt."
Die Küstersfrau gerät in helle Aufregung: "Ai, das ist schlimm, der Arme, kann er denn am Sonntag auch nicht kommen? "
Das weiß man nicht. Wer soll das wissen? Jedenfalls hat Rogerio jetzt genug gewartet, er fährt nach Hause. Macht\’s gut. Er hat den ganzen Tag gearbeitet, ihm reicht es.
Aus der Ferne hört man schnelle Schritte und dumpfes Aufdotzen eines Fußballs, da kommen Arcelina und Rafael, der seinen Ball vor sich her kickt. Sie werden sofort über den Stand der Dinge informiert, gehen aber nicht zurück, sondern Mutter setzt sich auf die Stufen vorm Portal, und Rafael stößt und tritt und knallt rhythmisch den Fußball an die Mauer. Odilia kommt mit dem Auto, hört sich unsere Reden an und fährt wieder nach Hause. Pompilio kommt angeschlurft und steht unschlüssig eine Weile herum. Griseldis fährt mit dem Auto vor und sagt, dass sie zwei weitere Sängerinnen im Café abgesetzt habe, die möchten lieber dort warten. Sie setzt sich auf die Straße , denn die Stufen sind besetzt. Autos fahren vorbei, bei jedem denken wir, es ist vielleicht doch der Chorleiter. Es kommen noch Manuel und Dorindo.
Schließlich geht Rosa telefonieren. Wir reden über Fußball: Alle sind jetzt draußen, aber Portugal ist im Halbfinale. "Purr-tu-gall", skandiert Dorinda, die mit nassen Haaren im Mondlicht wartet.
Die alte Küstersfrau kommt mit tollen Nachrichten zurück: "Unser Maestro hat kein Halsweh, sondern Schmerzen in der Hand, er nimmt gerade ein Bad, danach wird er kommen, ich habe mit seiner Frau gesprochen, er hat nicht damit gerechnet, dass wir auf ihn warten, denn in der Hauptkirche sind neulich nur 2 Leute zur Chorprobe erschienen, deshalb ist er wieder umgekehrt. Doch, er kommt. Warten wir noch ein wenig."
"Warum ist denn unser Gottesdienst am Sonntag neuerdings eine halbe Stunde vorverlegt worden?" frage ich mal in die Nacht hinein.
"Also, das ist so", erklären sie mir, "unser Chorleiter muss doch seit dem Ausscheiden des dortigen Organisten nach unserer Messe ins Nachbardorf in die Hauptkirche fahren und dort ebenfalls Orgel spielen und den Chor leiten. Aber er trinkt nach der Messe hier in unserem Café immer erst ein Tässchen Kaffee, das muss sein, das macht er schon seit 20 Jahren so. Doch nun kommt er deswegen immer zu spät zum Gottesdienst. Also müssen wir eher anfangen."
"Damit er seinen Kaffee trinken kann?" Wie human.
Um 11 Uhr nachts kommt der Chorleiter, steigt ohne Eile aus, geht ohne Eile in die Kirche, beginnt nach den passenden Liedern zu suchen, blättert und spielt sich die Melodie vor, und wir stimmen ein und legen los, dass die Grundmauern erbeben. "Wir singen zusammmen mit dem Weltall dir, o Herr, Lob und Preis…" – nach der Melodie "Butterfly, my butterfly, jeder Tag mit dir war schön…" (Nr.226)