Die Heilung des Stummen

Verfasst am: 14. Dezember 2003 von Barbara 1 Kommentar

Die Heilung des Stummen

Nach unserer Flucht aus der DDR landeten wir in einem Weiler am Ende der Welt, das war kein Dorf, nur eine Ansammlung von Häusern und ein buntes Gemisch von Menschen, meistens aus der unteren sozialen Schicht. Wir lebten mit 22 Menschen in einem Haus, dessen Besitzer kleine Bauern waren – Großvater, Großmutter, Tochter und eingeheirateter Schwiegersohn. Dieses Ehepaar hatte einen Jungen, der wie ein Tier aufgewachsen war, weil sich niemand um ihn kümmerte. Damit er nicht weglief, hatten sie ihn angebunden wie einen Hofhund oder an eine Kette gelegt und weiden lassen wie die Kühe. Von den Kühen lernte das Kind die brummenden und blökenden Töne, die er manchmal von sich gab. Wir dachten immer, alle diese Menschen seien taubstumm, gehörlos, abgestumpft, in ihrer Verbitterung und Primitivität verstummt und erstarrt. In dieser Familie wurde nicht gesprochen, man hatte sich nichts zu sagen, stieß dumpfe Laute aus, um sich bemerkbar zu machen – eine Kaspar-Hauser-Familie. Aber es waren doch keine Tiere,  - müssen Menschen nicht sprechen, singen, lachen, mit Worten und Gesten und Blicken lieb zueinander sein?

Hier im Dorf habe ich auch seit vielen Jahren ein Kind beobachtet, das bei seinen Großeltern aufwuchs. Diese alten Leute arbeiteten den ganzen Tag, ohne mit dem Kind ein Wort zu reden oder gar zu singen. Sie ließen den Jungen im Schlafanzug herumkrabbeln, fütterten ihn wohl auch und brachten ihn ins Bett, wenn er abends irgendwo herumlag. Sie behandelten ihn wie einen jungen Hund, und Hunde werden in Portugal sehr schlecht behandelt, das ist eine große Tragödie. (Sie haben übrigens auch einen Beo, einen Papagei, der aus Mangel an Vorbildern nur die Stimmen der Spatzen und Vögel im Garten macht. Niemand hat diesem schönen Vogel je irgendwelche Wörter vorgesprochen, er vegetiert so vor sich hin.)

Wir dachten also, der Enkel sei geistig behindert und stumm, weil er nur unartikulierte Laute von sich gab und starke Anzeichen von Hospitalismus aufwies wie jener Werner, der die schaukelnden Kopfbewegungen der Kühe nachahmte und Muh machte.

Als wir einmal in den Ferien wieder hier ins Dorf kamen, erzählte mir die Oma, dass ihr Enkel nun zur Schule gehe. "Wie?" fragte ich völlig entgeistert. "Der Kleine geht hier in die Dorfschule? Kann er denn sprechen?"  Da hat sie mir fast die Augen ausgekratzt: "Natürlich kann er sprechen und lesen und rechnen. Er ist ein sehr intelligentes Kind."

Ich habe seitdem nie einen Satz von diesem Knaben gehört, selbst wenn ich ihn mal anredete oder fragte oder ihn beim Spielen mit anderen Kindern beobachtete. Aber er hat wohl die 4 Grundschuljahre durchlaufen – wie auch immer.  Und er geht zur weiterführenden Schule in den Nachbarort. Wenn er uns begegnet, macht er den Mund auf und sagt: "Da." Das kann Bom dia oder Boa tarde heißen oder Er ist da.
Urlaute orphisch.

Und heute im Adventsgottesdienst geht plötzlich dieser inzwischen hoch aufgeschossene Knabe nach vorne ans Lesepult, entfaltet einen Zettel und liest ihn nuschelnd vor. Ohne den Blick zu heben, ohne den Mund zu öffnen, ohne irgend ein Wort zu betonen – ich habe rein nichts verstanden, aber es war menschliche Sprache, bestimmt, irgendwie.

Und ich dachte an die Heilungswunder Jesu, der die Taubstummen heilte, der die Zungen rettete und den Menschen die Möglichkeit schenkte, Gott anzurufen und zu preisen.

Wie spricht eigentlich ein Mensch, dem Gott die Sprache neu schenkt ?
Wie artukuliert sich jemand, der plötzlich von seiner Stummheit befreit wird?

Eine Antwort

  1. Volkmar schreibt:

    Ich hatte mal mit einer Familie zu tun, wegen der Taufe eines schon älteren Jungen, etwa 2 Jahre, der auch nur Urlaute ausstieß. Vater Atomphysiker, Mutter Studienrätin, drei ältere Geschwister. Dieser Junge stieß einen dumpfen Laut aus, und sofort rannten die Geschwister los und taten alles für den Kleinen. Schließlich ging der Vater mit dem Jungen zur Untersuchung in die Uni-Klinik. Der Professor stellte nach eingehender Analyse fest, dass der Junge hochbegabt war, aber "stinkefaul" (Originalton). Die Familie änderte dann ihre Fürsorge-Taktik, und der Junge sprach lange Sätze. So etwas gibt es also auch.
    Friedrich II (1215-1250) soll ja das "Experiment" gemacht haben, Kinder ohne sprachliche Begleitung aufwachsen zu lassen. Er habe eine Art "Ursprache" entdecken wollen, die sich von alleine ergab. Die Kinder seien gestorben.
    Wieviele Halbtote und Verstümmelte laufen herum!
    In dem älteren französischen Film "Die Katze" (mit Jean Gabin und Simone Signoret) sagt der Ehemann zu seiner Frau, dass er ab jetzt kein Wort mehr zu ihr sagen wird. Die Frau stirbt und der Mann verkümmert.

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