Der Hügel Golgatha

Verfasst am: 9. April 2003 von Barbara 1 Kommentar

Lieber Claudio,
im vergangenen Jahr hat Hagen mit dem Sakristan Morais einen Kalvarienberg auf dem Platz vor der Kirche erbaut. Im Hügel lag eine Grabeshöhle, die mit einem Stein verschlossen war. Der Berg war mit Gerstenkörnern (Passender wäre ja Weizen gewesen, aber Gerste keimt schneller.) besät worden, die durch eifriges Begießen schnell grüne Halme entwickelten. Mit viel Liebe hatte Hagen noch dazu Blümchen und symbolische Kräutlein gepflanzt. Auf der Schädelstätte waren drei Holzkreuze errichtet worden. Nachts brannten dort Kerzen.

Wir beobachteten, wie immer wieder die Dorfbewohner vor dem Hügel stehen blieben und alles betrachteten. Mütter erklärten ihen Kindern, was der Stein da sollte, warum die drei Kreuze da stehen und was das für ein Berg ist. Die Katechetin zog mit ihrer Schar nach draußen auf den Dorfplatz und erzählte den Kindern vom Leiden und Sterben des Herrn. Der kleine Renato, der hier gegenüber in der Straße wohnt,
baute sich dann im Vorgarten auch so einen Kalvarienberg.

Dabei hatte es schon 2 oder 3 Jahre gebraucht, bis sich jemand  für Hagens schöne Idee mit der Passionslandschaft erwärmte. "Ihr baut doch immer eine Weihnachtskrippe auf", sagte der Paschtore, "warum wollt ihr denn nicht einmal eine Osterszene gestalten?" Und im vorletzten Jahr konnte er dann wirklich auf den Stufen zum Altar seine Kiste mit sprießendem Weizen, drei Kreuzen, der Grabhöhle und den 3 Marien aufbauen. Es war zu komisch: die 3 Marien waren abgesägte Barbie-Puppen, denen die Katechetin die lange Beine amputiert hatte und die nun am Ostermorgen – nein, nicht auf dem Zahnfleisch, aber auf dem Rumpf – zum Grab wanderten.

Solche Passionslandschaft hatte Hagen schon immer mit seinen Konfirmanden gebaut. Die verstanden dann durch das Mitmachen mehr von der ganzen Geschichte, als wenn man ihnen das alles nur aus der Bibel vorgelesen hätte. Die Begeisterung des Pastors war wohl auch so anhaltend, dass ein winziger Funke davon sogar hier in Portugal übersprang.

Von unserem Hügel Golgatha hier auf dem Dorfplatz erschien dann auch ein schönes Foto und ein guter Bericht vom Kirchenblattschreiber, einem sehr alten Herrn aus dem Nachbarort, der die ökumenische Arbeit und die Verkündigung durchaus würdigte.

Was wird aber in diesem Jahr geschehen?
Kommen wir nicht doch zu spät, um noch eine Landschaft zu bauen?
Wollen die Leute im Dorf das überhaupt haben?
Vielleicht dulden sie nur aus lauter Toleranz und Freundlichkeit dieses Treiben des deutschen Paschtore?
Wir waren sehr beunruhigt.

Bei der Ankunft fuhren wir gleich am Dorfplatz vorbei und schauten ängstlich herum: Ob der Küster oder die Jugendlichen wohl daran gedacht hatten, den Grabhügel zu bauen? Ob sie wohl schon begonnen hatten?

Der Anblick war niederschmetternd!
Der Dorfplatz war eine einzige Schutthalde. Da hatten die Leute doch wirklich Ölfässer und Steine, Plastikfolien und Schrott zusammengetragen. O Graus. Da war ja wohl bei dieser Umweltsäuberungsaktion völlig vergessen worden, dass da in der Karwoche eine Kreuzigungsszene und ein Grab errichtet werden sollten.
Uns fuhr der Schreck ganz schön in die Glieder! Welche Enttäuschung!

Abends sprach Hagen mit den Küstersleuten.
"Warum liegt da so viel Unrat? Wollt ihr dieses Jahr  nichts machen?" wollte er fragen, aber er kam gar nicht dazu, denn die Küstersfrau strahlte und erzählte ihm überglücklich, dass die Jugendlichen dieses Jahr den Grabhügel bauen, noch viel größer und schöner als je zuvor, mit einer mannshohen Grabhöhle und mit richtig echten Wackersteinen, mindestens 10mal so groß wie letztes Jahr, und alles wird mit Saat begrünt, und dann machen sie einen Kreuzweg, und der Chor singt schöne Lieder, am Mittwoch nachts um halb 10 ist die Chorprobe, nicht vergessen!, und alle machen so begeistert und fleißig mit…

"Ach", sagte Hagen ganz überrascht, "dieser ganze Schrotthaufen ist also der Grundstock für den Kalvarienberg? Na, sowas… Aber eigentlich war ja die Schädelstätte Golgatha in Jerusalem auch ein Abfallhügel, das passt ja schon…"

Da sind wir wirklich völlig erstaunt. Das hätten wir nun doch nicht gedacht, dass die Passionsgeschichte hier zum Event ersten Ranges wird! Nun werden wir heute abend zum Singen zusammenkommen und sehen, was weiter geschieht.

Eine Antwort

  1. Volkmar Jung schreibt:

    Drei Jahre dauert es, offensichtlich in romanischen Ländern, bis sich jemand für eine von jemand anderem schon realisierte Idee erwärmt. Uns geht das in Frankreich ähnlich. Jacqueline hatte hier vor über drei Jahren eine Cafeteria gestartet: Kuchen wurde von der ev. und kath. Gemeinde gestiftet, alles wurde verkauft, man traf sich zum Plaudern, es war alles schön. Dann schlief alles ein, von ein paar Offiziellen wurde gebremst ("das hat es noch nie gegeben!", "da könnte ja jeder kommen!"). Jetzt wird die Idee plötzlich von den Ureinwohnern aufgenommen.
    Ich denke, es gibt eine Art Biorhythmus von 3 Jahren. Das eine Trauerjahr reicht ja nicht aus, es sind ja eigentlich drei Jahre, bis man sich an eine neue Situation angepasst hat. Ähnlich ist es auch, nach meiner Erfahrung, mit beruflichem Wechsel. Da hat man doch auch etwa einen Zyklus von drei jahren, bis man in seiner neuen Stelle richtig Fuß gefasst hat.
    Weiß irgendein Biologe oder Psychologe unter der Leserschaft etwas über solche Zusammenhänge? Es würde (mir) pädagogisch helfen, geduldiger und weniger enttäuscht zu sein.
    Beste Grüße
    Volkmar

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