Schweigen

Verfasst am: 7. Juli 2002 von Barbara 1 Kommentar

Lieber Claudio,
also, warum mich diese Mauern so nachdenklich machen:

Vor einigen Wochen hielt ein unbekannter Padre den Gottesdienst in unserer blumengeschmückten Dorfkirche. Er stand da so bescheiden und demütig, im Gebet versunken, beinahe überirdisch und aus einer anderen Welt, obwohl er den bekannten apfelgrünen Trinitatistalar trug, ein nagelneues leuchtend grünes Gewand, in das goldene  Sterne gewirkt sind. Das haben die barmherzigen Frauen aus dem Kirchenvorstand gerade neu angeschafft. Seitdem sind sie noch lieber im Hause des Herrn und betrachten ihren schön aufgebrezelten Pfarrer. Aber der Talar war für den Fremden ein wenig zu kurz, man konnte seine Füße sehen, die grünbesockt in Sandalen steckten. Es waren wirklich grüne Trinitatissocken mit goldenen Sternen, fein korrespondierend mit dem neuen dorfeigenen geistlichen Gewand.
Der Padre ließ nach der Eingangsliturgie Psalm und Epistel lesen, ergriff die Bibel, hielt sie hoch und sagte, das sei doch ein köstliches Wort, wie überhaupt Gottes Wort etwas Wunderbares sei, das Applaus verdient habe, und wir sollten bitte klatschen.
Es klatschten auch brav alle, aber etwas befremdet, … "dass sich  auch der Landpfleger sehr verwunderte".  
Dieser Auftakt war – nun ja, sehr ungewohnt.
Bevor er mit seiner Predigt anfing, stellte er sich vor und erzählte mit schlichten Worten seine Geschichte, wie er als kleiner Junge den Wunsch hatte, Missionar zu werden, wie seine Mutter sagte, das sei ein schönes frommes Ziel, aber sie seien zu arm und er könne keine Schule und kein Priesterseminar besuchen. Er aber blieb bei seinem Traum. Er glaubte an den Ruf und arbeitete in der Gemeinde – hier in einem Nachbarort – mit, wo immer er konnte. Für ihn gab es nur einen Weg: die Nachfolge Jesu.
Und weil er seiner Berufung folgte, öffneten sich dann auch manche Türen, er bekam schließlich eine Ausbildung als Missionar und wurde gut ausgerüstet eines Tages ausgesandt. Sein Ziel war Angola. Dort aber zeigte man ihm die vielen Gräber von portugiesischen Missionaren, die wegen ihres Glaubens verfolgt und getötet worden waren. Der Bischof und seine Ratgeber hielten es deshalb für richtiger, ihn nach Brasilien zu entsenden.

Nun erzählte er von diesem Land, in dem er als Missionar seit vielen Jahren arbeitete, unter den Ärmsten der Armen, in den Slums oder favelas, bei den Menschen, die ohne die Frohe Botschaft dahinvegetieren. "Ihr könnt keinem Menschen von Gott erzählen, wenn er Hunger hat oder Schmerzen leidet", sagte der Missionar. "Zuerst müssen wir die Not lindern, müssen den Hunger stillen und Wunden verbinden, dann wird man uns zuhören, was wir von Christus erzählen.
Wie kann ich den Erwachsenen und den Kindern etwas von Gottes Liebe sagen, die sie in dieser Welt noch nie erfahren haben?  In ihrer Welt gibt es keine Liebe, und das, was sich so nennt, ist Prostitution. Die kleinen Mädchen überleben nur als Prostituierte." Er unterbrach sich und fragte: "Wisst ihr, was eine Prostituierte ist?"

Da erstarrte die Gemeinde.

Es war ganz still. Keiner atmete. Keiner rührte sich.
Keiner hob den Blick.
Es war die merkwürdigste beklemmende Stille, die ich jemals wahrgenommen habe. Ein bedrohliches, betroffenes, erschrockenes Schweigen.
So schweigt eine Schulklasse, wenn der Lehrer ("Professor Unrat") fragt: "Wer war das?"
So schweigt eine Dorfgemeinschaft ("Andorra"), wenn sie zur Rede gestellt wird.
… "Das Schweigen der Lämmer".

Was sollte denn diese Frage? Eine rein rhetorische Frage war es nämlich nicht.
Wen fragte der Missionar da eigentlich?
Wen hatte er denn da vor sich – Kinder und fromme, einfache Menschen, denn die Schwerenöter sitzen ja meistens nicht in der Sonntagsmesse.
Dachte er, wir sind Hinterwäldler? Weiß er nicht, dass hier in jedem Zimmer ein Fernsehapparat steht, wo die tollsten brasilianischen telenovelas und Liebesromane in allen Variationen und mit allen menschlichen Sonderformen und Perversitäten über den Bildschirm laufen? Kennt doch jedes Kind…

Vielleicht war es der strenge Ton eines wahrhaft guten Menschen, von dessen Reinheit und Güte die Zuhörer fasziniert waren, sein Blick, dem man kaum standhalten konnte. Es war so, als wenn er gefragt hätte: "Wer unter euch ist ohne Sünde?"

Er fuhr dann fort und sagte: "Maria Magdalena war eine Prostituierte" und begann mit der eigentlichen Predigt.

Seitdem denke ich über dieses Schweigen nach, verstehst du.
Über die Mauern und verschlossenen Hoftore.
Über die verlorene Unschuld.
Dieses Erschrecken.
Diese erstarrte Gemeinde.

Eine Antwort

  1. Katharina schreibt:

    Etwas ähnliches habe ich bisher nur bei George Taboori erlebt. Das Stück Adolf Herzl  - wo einem buchstäblich am Schluß das Lachen im Hals stecken bleibt, weil es bitterer Ernst ist, was da gesagt worden ist. Verlorene Unschuld auch hier in Deutschland spätestens seit Hitler – aber heute verdrängt durch aktuelle Fragen und versteckt hinter den Fassaden eines Sauberdeutschlands, das wir schon lange nicht mehr sind.
    Gott sei dank, dass wenigstens die Bibel ehrlich über diese Probleme spricht.

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