Mauern

Verfasst am: 6. Juli 2002 von Barbara Keine Kommentare

Lieber Claudio,
unser Dorf verändert sich von Tag zu Tag und so schnell, dass ich manchmal meine, ich sollte mit einem Fotoapparat herumlaufen und alles festhalten. Da wird gebaut und renoviert und abgerissen und Land gerodet. Die Weingärten, in die das Dorf einmal eingebettet war, sind längst verschwunden. "Es lohnt sich nicht mehr", sagen die Jüngeren und verkaufen ihr Land. Die Emigranten bauen sich Paläste, deren Ausmaße für ein kleines Dorf völlig unpassend und schier unerträglich sind. Dorindo baut seit Mai für solche Heimkehrer am Ortseingang, da, wo früher knorrige Olivenbäume die Dorfstraße säumten, ein zweistöckiges Haus mit 400 qm Wohnfläche auf jeder Etage. Also, diese 800 qm will das Ehepaar allein bewohnen.

Aber was mich am meisten bekümmert: Überall werden Mauern gebaut. Jeder zieht um sein Anwesen eine hohe Mauer. Die alten verwitterten Mäuerchen auf den Feldern, die aus selbstgemachten Kalksteinen ("adobes" sagt man hier) als Grenze dienten, werden nach und nach fast alle um einen halben Meter aufgestockt, dann kommt obendrauf noch ein Stacheldraht oder Eisengitter, dann wird alles mit Zement verputzt – ja, wo kommen wir denn da hin? Muss ich auch weiterhin "Über alle Mauern hinweg" springen, fliegen, mich träumend darüber hinweg setzen?
Was haben die Menschen zu verbergen?
Welche Schätze müssen sie sichern?
Oder verbergen sie sich selbst dahinter?
Aber vor wem?

Früher – wie meine Nachbarin Maria ständig zu sagen pflegt, "antigamente", früher – standen die Hoftore offen, die Grundstücke brauchten keine hohen Umzäunungen, die Häuser brauchten keine einbruchsicheren Fenster und Türen und keine zähnefletschenden Kettenhunde, man grenzte sich nicht ab und setzte sich nicht auseinander (!), sondern kam zusammen und lebte miteinander. Früher -, damit meine ich die Zeit vor 18 Jahren, als wir zum ersten Mal nach Portugal kamen.

Und wenn ich dann eine neu errichtete Mauer sehe (gestern war die doch noch gar nicht da?), fange ich an zu überlegen, welche Geheimnisse dahinter verborgen sind.
Was hat der Nachbar wohl für ein Geheimnis, was entzieht er unseren Augen, was keiner wissen darf? Was treibt er hinter seiner hohen Mauer? Welche menschlichen Abgründe tun sich da auf,  wo alles verschlossen ist?

Welche Abenteuerpfade und Irrwege locken da für Menschen mit Phantasie!

Ich wollte diese Beobachtung heute schon mal vorabschicken, damit du meine Geschichte morgen besser verstehst.

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