Lieber Claudio,
neulich erwähnte ich doch einmal unseren neuen Freund, den "Duque de Lisboa", den Herzog von Lissabon. Ich will dir heute mehr erzählen.
Es ist nur sein Spitzname.
Er ist alles andere als ein Duque. Er ist ein alter Mann, ein Emigrant aus Brasilien, der wieder in sein portugiesisches Heimatdorf zurückgekehrt ist. Und nun passt er weder hierhin noch nach Brasilien. Er sagt: "Portugal und Brasilien – das sind zwei ganz verschiedene Dinge, außer der Sprache haben die nichts gemeinsam. Nein, hier im Mutterland ist gar nichts wie in Brasilien." Vielleicht sagt er das, vielleicht haben wir das auch nur verstanden, denn er spricht sehr heiser und unverständlich, mit einem Mund voller Zahnlücken, aber die haben hier fast alle, denn Zähne sind teuer und Zahnärzte können sich nur die reichen Leute leisten. Außerdem sind die übriggebliebenen anderen Zähne prima und gesund, und die Lücken stammen von einer Schlägerei, als er noch jung war. Der eine Schneidezahn fehlt seit einem Unfall mit einem Traktor, wobei der Traktor die Schlacht verlor.
Der Duque de Lisboa spricht also völlig unverständlich und schnell und wie man auf dem Dorf eben spricht. Er ist Analphabet und besucht noch einen Abendkurs hier in der Elementarschule, über den er sich sehr ärgert. Mitten im Unterricht verläßt er den Raum und schimpft über die Lehrerin, die ihnen nur Spielereien beibringt, obwohl er doch ein alter Mann ist, ein richtiger, ein toller Kerl, der gerne lernen würde, wie man Formulare liest und ausfüllt. Nicht, dass er etwa ungebildet ist. Er weiß mehr als andere Leute und hat sich ohne Lesen und Schreiben ganz gut durchs Leben und mit Behörden, Ämtern und Chefs herumgeschlagen. Er ist ein Schlitzohr, ja, ganz bestimmt.
Jetzt lebt er also in seinem verfallenen Haus ganz allein, zweifacher Witwer, mit drei portugiesischen und zwei brasilianischen erwachsenen Kindern gesegnet, mit einem riesigen, sehr gepflegten Garten, einem Schuppen voller Holz, denn er hat eigene Wälder, mit vielen Hühnern sowie zwei Motorrädern. "Ich brauche zwei, weil eines immer repariert wird", erklärt er und zeigt uns seinen Garten.
Als erstes führt er uns zu seinem Brunnen und spricht begeistert über das gute Wasser. "Es ist sehr gutes Wasser zum Trinken und zum Waschen", sagt er. Und er behauptet, dass er sich immer kalt duscht, im Winter wie im Sommer, weil das ja so gesund ist. Stolz zeigt er auf den Kartoffelacker, bückt sich und gräbt die roten Kartoffeln aus: "Seht mal, was das für wunderbare Kartoffeln sind, diese zarten Schalen, sehr gute Qualität!" Wir bewundern auch den Kohl und die Kräuter, welch schöne Petersilie, welch strammer Knoblauch, welch gesunde Salatköpfe, welch riesengroße Zwiebeln! Und immer wieder greift er hoch in die Bäume und pflückt eine Mandarine, Orange oder Zitrone ab, zerteilt sie und stopft sie uns in den Mund. "Keine Widerworte, es ist so gesund." Diese Zitronen sprengen jede Vorschrift von EG-Norm. "Hier, nehmt, ihr könnt alles mit der Schale essen."
Dann säbelt er mit einer Sichel riesige Kohlstrünke ab, es ist dieser spezielle portugiesische Kohl mit elefantenohrengroßen Blättern, den wir sehr mögen, er gräbt noch mehrere Stauden glatter Petersilie aus ("Sie ist besser als die krause, die taugt nicht.") und reißt die reifen Früchte vom Mispelbaum herunter: "Meine Nesperas sind die besten weit und breit, esst mal, hier, esst viel!" Und schwer beladen und gerührt ob seiner Freigiebigkeit wanken wir davon.
"Kommen Sie doch morgen zum Mittagessen zu uns", sagen wir noch, um uns erkenntlich zu zeigen.
"In Ordnung", sagt er heiser und lacht mit zahnlosem Mund.
Und am nächsten Tag kommt er um halb 12 (da isst hier niemand, das Mittagessen gibt es erst ab 1 Uhr frühestens) angeknattert, vor sich auf dem Motorrad hat er einen halben Sack Kartoffeln, links und rechts Plastiktüten mit Zitronen und Apfelsinen.
"Das Obst schenke ich euch, das ist aus meinem Garten, aber die Kartoffeln müsst ihr bezahlen, denn die habe ich selbst gekauft. Hab mir nur ein paar herausgenommen zum eigenen Bedarf, deswegen gebe ich sie euch billiger." Wir wollten zwar gar keine Kartoffeln haben, denn wir haben genug, aber – na gut.
Wir setzen uns an den Tisch. Es gibt Weißbrot, Oliven und Rotwein als Vorspeise und dann Kartoffeln, Couve portuguesa und den Rest vom Hammelfleisch.
"Fleisch esse ich eigentlich selten, das dauert zu lange , wenn man es zubereitet. Und Gemüse ist viel gesünder", sagt der Herzog und meint, alles, was in seinem Garten wächst, sei gut und sehr gesund. Er kenne in seiner Umgebung und Familie niemanden mit Krankheiten. (Ich glaube ihm kein Wort!) Alle bösen Krankheiten kommen von falscher Ernährung. (Ich fühle mich unter seinem vorwurfsvollen Blick schuldig, aussätzig und zum Tode verurteilt.) Er häuft sich den Kohl über die Kartoffeln und sagt: "Sehr guter Kohl!" Es ist ja auch sein eigener. Den habe ich gekocht und püriert, mit einer Mehlschwitze, Olivenöl und Muskatnuss zubereitet, so wie die Bauersfrauen das hier machen, er schmeckt uns allen sehr gut, es bleibt nichts übrig.
Statt nun endlich mit dem Mahl zu beginnen, steht der Duque plötzlich auf, läuft über den Hof zu seinem Motorrad, holt dort sein großes scharfes Messer mit Holzgriff, schnappt sich ein paar der mitgebrachten Riesenzitronen und Orangen und beginnt auf seine Art mit der Verfeinerung der Speisen.
Zunächst viertelt er die Zitronen, quetscht mit der bloßen Hand ein Viertel über seinem Weinglas aus, dann ungefragt auch über unseren Gläsern. Der Saft verdünnt und entfärbt den Rotwein, wir gucken ganz entsetzt, aber der Duque de Lisboa lacht heiser und begeistert und sagt: "Das nimmt die Säure weg, das ist gut. So müsst ihr den Wein immer trinken, es ist viel gesünder."
Dann beginnt er die Apfelsinen zu schälen, rundherum mit einer einzigen Spirale, zerteilt die Frucht in saftige Achtel und knallt uns allen diese Stücke auf unseren Teller. Ich habe zwar schon einmal etwas von Ente mit Orangen gehört, aber Kartoffeln, Kohl und Apfelsinen als Mansch-Brei scheint doch eine etwas fremdartige Mischung zu sein. Der Herzog nickt und fordert uns auf: "Esst, esst, das ist viel gesünder, das müsst ihr essen, das ist optimal. Ich bin nie krank, weil ich immer so etwas Gutes, Gesundes esse."
Er aß mit großer Hingabe und schweigend, bedeckte den Tisch mit Olivenkernen, Brotkrümeln, Rotweinflecken, Zitronen- und Orangenschalen und anderen Speiseresten, erhob sich wie ein General, der zur Attacke anfeuert, zog seine Jacke mit dem mottenzerfressenen Pelzkragen an, setzte sich seine Mütze auf und fuhr mit unserem Vater ins Dorfcafé, wo er ein Tässchen Kaffee trank. Das macht man hier als gestandener Mann immer so. Es war aber nur Malzkaffee. Den brasilianischen Mokka aus Bohnen trinkt er grundsätzlich nicht.
Und ich stehe nun hier vor einem Riesenberg fürstlicher Abwäsche -
und bin unheilbar gesund.