Alphonse Daudet

Verfasst am: 29. Juni 2002 von Barbara 1 Kommentar

24.6.2002 – Johannistag

Lieber Claudio,

wie der französische Schriftsteller Alphonse Daudet vor 215 Jahren in seinen "Briefen aus meiner Mühle", jener alten Windmühle in der Provence (die es aber nie gab), würde ich gerne anfangen: "Von hier aus schreibe ich Ihnen, meine Tür weit dem Sonnenlicht geöffnet… Kein Geräusch, kein Lufthauch im Lavendel, kaum von Zeit zu Zeit der Ton einer Pfeife, ein Schellenklingeln der Esel auf der Landstraße."

Aber außer dem Sonnenlicht stimmt nichts mit Alphonses Situation überein, denn mein altes blaues Haus in meinem portugiesischen Dorf kennst du ja, es existiert (zu meiner Freude), sowohl das Haus als auch das Dorf, auch sagen wir nicht altmodisch "Sie" zu einander, ich schreibe mit dem Computer statt mit Feder und Tinte und brauche nicht einmal zum Briefkasten zu fahren, und außerdem gibt es die mannigfaltigsten Geräusche, gerade an einem solchen Tag wie diesem, dem Johannistag, der mit Feuerwerk und Böllerschüssen und Sardinenbraterei gefeiert wird. Der Wind raschelt im Bambus, und die Beregnungsanlagen drehen sich über den Maisfeldern und erzeugen dieses an- und abschwellende Regengeräusch. Der Esel von Herrn João, der früher so damenhaft graziös über die Straße trippelte, lebt schon lange nicht mehr, und Schellenklingeln? Nun ja, die Fahrräder hier haben überhaupt keine Klingel. Es ist trotzdem wunderbar still, es ist friedlich still. Ich mag die Stimmen in der Ferne, die Knallerei der Raketen im Nachbardorf, hin und wieder Hundegebell, den eigentümlichen Klang unserer Kirchturmglocke, – das alles bildet ja diese friedliche Stimmung im Dorf.

Und ich mag es, Dir zu schreiben, ohne überlegen zu müssen, wie ich nun diese Sätze und Wörter ins Portugiesische übersetze. Ich glaube, dass mein Deutsch fast ein wenig darunter leidet. Ich habe beobachtet, dass ich manche kühnen Konstruktionen fallen lasse und vereinfache, manche Wortneuschöpfung wieder verwerfe, weil ich es zu schwierig finde, sie zu übersetzen. An dich schreibe ich so, wie ich will.

Nun denn, es wird also weder eine Wiederholung der Daudetschen Briefe geben, noch "Lettres Portugaises", jenen gefühlvollen Briefroman aus dem Jahre 1669, dessen Verfasser unbekannt ist. (Vielleicht sind es wirklich die Liebesbriefe einer portugiesischen Nonne namens Mariana aus Beja an einen edlen Ritter? Überleg mal, wie lange das schon her ist! Herz – Schmerz… )

Und die französischen "Briefe aus meiner Mühle" mag ich eigentlich auch nicht so gerne, dass ich sie erneuern wollte. Ich mag sie nicht mehr, weil ich sie im Französisch-Unterricht auswendig lernen musste. Noch heute kann ich ohne Unterbrechung die Erzählung "Monsieur Le Sous-Prefèt est en tournee…" herunterrasseln. Aber wer will das schon hören? Mir hat es allerdings damals wenigstens durchs Abitur geholfen. Was standen mir bei der schriftlichen Prüfung dank Alphonse Daudet für fein gedrechselte Wendungen zu Gebote! Und ich bedurfte ihrer sehr, weil ich mich in den ersten Jahren im Französisch-Unterricht "verweigert" hatte. Ich habe anfangs aus Trotz diese Sprache nicht lernen wollen, weil mein Vater im Krieg in Frankreich gefallen ist. Welch kurzsichtige kindliche Rache, nicht wahr? Da fehlten mir doch später zugegebenermaßen die elementarsten Grundkenntnisse, die Vokabeln und die Grammatik. Doch unser boshafter Lehrer mit seinem autoritären Stil, der uns ständig alles mögliche auswendig…auswendig…auswendig lernen ließ, pflegte zu sagen: "Ihr braucht nicht zu diskutieren, lernt ihr mal lieber auswendig. In einer Diskussion fällt einem sowieso nur das ein, was man auswendig gelernt hat." Nun, im schriftlichen Abitur sind mir jedenfalls schöne Sätze eingefallen. Rettungsbojen im Meer des Nichtwissens. Da hatte er wohl recht. Friede seiner Asche.

Doch zurück zum Johannisfest am gestrigen Sonntag. Wir hatten die Vertretung für den Gottesdienst in der deutschen Kolonie in Porto übernommen und den Tag auf der Quinta von Deutsch-Portugiesen verbracht. Die Familie dieses Agrar-Ingenieurs lebte lange in Mozambique und bewirtschaftete Baumwollfelder und Plantagen. Das Land hatten sie selbst urbar gemacht (2 schwere Traktoren mussten die Pflüge und Eggen über den steinharten Boden ziehen). So stelle ich mir echte Pioniere vor: der schlanke große Herr, der alles alleine herstellte, aber auch die vielen schwarzen Mitarbeiter gut führte. Jetzt hat er eine Baumschule und eine Kiwi-Plantage in Porto, ist schon 70 Jahre alt und federt ganz elastisch über seinen Acker, mit großer Liebe und Zärtlichkeit seine Pflanzen hegend und pflegend. Alles hat er selbst gebaut, Wasserleitungen und Sprühanlagen und Magazine und und und… Er hat mich sehr beeindruckt, verglichen mit so manchem "Rentner" …

Die Plantage ist von hohen Weinstöcken (der Vinho Verde wie im Minho-Gebiet) umgeben, und als Begrenzung blüht an allen Mauern und Wegen die blaue Hortensie. Du weißt ja, Rilkes "Blaue Hortensien", bloß viel blauer und kräftiger als Rilkes Kinderschürzenblau. In meinem Garten blühen sie rosa, und zum Trost für mich hat Rilke auch dem Rosa ein Gedicht gewidmet, das sich in den Blütendolden sammelt: "Sind Engel da, es zärtlich zu empfangen, wenn es vergeht, großmütig wie ein Duft?" (Versprich mir, die Gedichte zu lesen!) Der Plantagenbesitzer erklärte mir nüchtern, dass es an der Bodenbeschaffenheit liege, ob Hortensien blau, weiß oder rosa blühen, aber aus der Analyse von Säure- und Eisenanteilen des Bodens kann man wohl so recht kein Gedicht machen.

Wir saßen also hoch über diesem fruchtbaren und gesegneten Tal und erörterten Glaubensfragen. Um das Haus herum wiegten sich fremdartige Bäume, zur Erinnerung an die Jahre in Afrika gepflanzt. Es sind Kasuarinen, die wie hohe Pinien aussehen, aber mit zarteren Schachtelhalmwedeln ausgestattet sind. Den Namen haben sie von dem australischen Straußenvogel Kasuar, dessen Gefieder ähnlich zart ist. Wenn der Wind durch die Bäume strich (anders als bei Daudets Windstille im Lavendel), hörte man die Baumkronen im Wind flüstern und singen. "Das Singen der Kasuarinen…"

Da der Gottesdienst erst abends war, zog man sich dann festlich an und fuhr von der Quinta in die Stadt, die schon leise vibrierte, wie vor einem Weltmeisterschaftsspiel, und wo sich jedermann auf die Johannisnacht freute. Überall duftete es nach gebratenen Sardinen. In Gruppen sah man die Männer mit ihren Gummihämmerchen in die Unterstadt ziehen, fröhlich lachend und singend, Tausende von Menschen, die von der Bolsa in die Ribeira strömten. Was für eine Stadt, was für eine lebendige, quirlige Stadt! Die linde Sommernacht, der Vollmond über dem Kloster am linken Douro-Ufer. Der Blick von der Arrabida-Brücke hinunter!

Genug, es wird alles noch da sein, wenn du kommst.

Und ich war trotzdem froh, in der Nacht wieder in mein friedlich schlafendes Dorf zurückzukehren.

  

Eine Antwort

  1. Hagen schreibt:

    Ich musste mal wieder die erste Mail aus unserem Dorf nachlesen.
    Bin ganz betroffen, wie schnell ein Jahr vorübergeht und wie ereignisreich (inzwischen liest man hier schon über 70 mails mit wenigen Kommentaren, insgesamt 91 Einträge) das Leben ist.

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