Muttersprache – Fremdsprache
Zwei gehen an meinem Bett vorbei und sprechen deutsch. Ich höre es genau, wie er behauptet: „Das ist aber noch nicht gesagt“. Und der andere sagt: „Da wird etwas dazwischen kommen.“
Ich frage laut in den Saal: „Wer spricht denn hier deutsch?“
Sie gucken mich erstaunt an: „Hier spricht keiner deutsch.“
„Aber ich habe es doch gerade gehört, hier gingen zwei an meinem Bett vorbei, die haben diese zwei Sätze gesagt. Das waren so typisch deutsche Redewendungen.“
„Nein, bestimmt. Hier spricht niemand deutsch. Hier war keiner, der deutsch spricht!“
Ja, ich weiß, sie sprechen portugiesisch, sie fragen mich portugiesisch, sie trösten mich portugiesisch, sie reden miteinander portugiesisch. Ich verstehe alles und antworte auch portugiesisch. Die Antwort kommt immer ganz selbstverständlich portugiesisch von mir. Aber meine Sprache ist doch Deutsch, ich höre sie überall.
Und ich überlege mir, woher es wohl kommt, dass ich deutsche Wörter und deutsche Sätze mit ihrer ganz eigenen Melodie höre?
Abends sitzen einige Schwestern und Krankenpfleger um einen Tisch und einer liest einen deutschen Brief vor, ich höre es genau!
Es ist ein Brief in deutscher Sprache. Ich bin ganz aufgeregt und frage: „Was lesen Sie da?“ Aber sie versichern mir alle, sie haben ihre Dienstpläne abgestimmt, da hat keiner deutsch gesprochen.
Ja, und was höre ich in meinem halbwachen Zustand denn da?
Und ich stelle mir vor, dass alles, was so telefoniert wird und ausgesprochen wird, in der Atmosphäre herumschwirrt. Akustische Wellen. Also, warum nicht auch deutsche Brocken? Und einige Brocken davon fliegen zufällig in Lissabon an mir vorbei – irgend so ein deutscher Satzfetzen. Der bringt eine Saite in mir zum Klingen.
Vielleicht ist das so?
Später, als ich mit einem Kind im Zimmer zusammen war, einem dreizehnjährigen Mädchen, das mit seiner Mutter telefonierte, habe ich in ihrem Gespräch oft meine deutsche Muttersprache wahrgenommen. Ich habe nicht die einzelnen Worte verstanden, aber ich habe die deutsche Satzmelodie gehört. Es war eben einfach die Muttersprache.