"Ich habe Menschen getroffen, die…" Benns Zeilen verfolgen mich oft. Begleiteten mich auch in Brasilien. Eigentlich genügt die Überschrift des Gedichtes schon als Antwort auf Joaquims Frage nach der "Bilanz dieser Reise" Alle diese Begegnungen…Tolle Menschen habe ich getroffen. Interessante, temperamentvolle, selbstbewusste, schöne, kluge, kluge und gleichzeitig schöne, Menschen mit einer tollen Geschichte, mit großartigen Fähigkeiten, mit Profil, mit Ecken und Kanten und mit Charakter.
Und ich finde es fast bedauerlich, dass ich sie nicht so beschreiben darf, wie sie uns begegneten. Wegen der Persönlichkeitsrechte und so. Ich müsste alle romanhaft umbenennen und verändern, und dann sind sie es nicht mehr.
Immer wieder aber muss ich an eine Senhora auf der Reise denken, die mich unglaublich beeindruckte, vielleicht auch wegen Benns Gedicht:
"Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehen."
Dieses Sanfte und Gute, das überhaupt nicht weichlich und schwach ist, gar nicht duckmäuserisch und lebensunfähig, das ist es.
Unser junger Elektriker ist so einer , "innerlich sanft", seine Augen sind sanft und dunkel schimmernd, und seine Bewegungen, selbst wenn er in den Brunnen klettert und dort den Elektromotor repariert oder mit dem Presslufthammer eine Zementwand aufbohrt, um die Leitungen zu verlegen, erinnern mich an die morbide Lässigkeit von Mme. Chauchat im "Zauberberg", weich, fließend, still, ja, Miguel, der starke Erzengel Miguel, ist so einer von denen, die "innerlich sanft und fleißig wie Nausikaa, die reine Stirn der Engel tragen".
Und nun diese Senhora in Bahia –
Aber ich müsste ein Buch schreiben, weil schon die Lebensgeschichte so faszinierend ist. Wie kommt ein handfestes Schweizer Dirndl über Portugal und die afrikanischen Kolonien nach Brasilien und bewahrt sich als reiche Dame diese Natürlichkeit und Offenheit im liebevollen Umgang mit den Menschen – Ich habe selten so viel echte Zärtlichkeit gespürt, wie diese Frau sie den Freunden, Gästen, Verwandten, Kindern und Hausangestellten entgegenbrachte. Wirklich echt, das empfand ich wohl. Ihr Haus war voller Gäste, Besucher, Verwandte, Dauergäste und Angestellte, Enkelkinder – ich konnte keinen Unterschied in der "Rangordnung" oder gar der Behandlung feststellen. Alle bewegten sich mit der größten Selbstverständlichkeit, als gehörten sie hierher. Ich war sowieso völlig eingenommen von der zärtlichen freundlichen Atmosphäre im Haus, von den Umarmungen und liebevollen Gesten und Worten. Dazu bog sich der Tisch unter den guten Dingen: Kaffee, Likör, Konfekt, Torten und Küchlein, Obst, warme Gerichte, Nachspeisen, Salate, Schweizer Spezialitäten (Wähen, erinnerst du dich? Dieses Wort in Bahia!! Wähen und Quiche…)
"Was feiern wir denn eigentlich? (Ich hätte am liebsten wie die entrüsteten Pharisäer gefragt: Wozu dienet diese Verschwendung?)" Ja, diese verschwendete Liebe, die sich auch in den herrlichen und aufwändig zubereiteten Speisen zeigte, und diese großzügig verschwendete Freundlichkeit und Zärtlichkeit… Aber was heißt verschwendet, ist Liebe jemals "verschwendet" oder hinausgeworfen? Kommt sie nicht vielfältig wieder zurück?
Auf einmal erschien eine große, schlanke junge Frau auf der Terrasse, schön wie ein Model, reich und gepflegt und sehr elegant gekleidet. Eine berühmte Schauspielerin? Ein berühmter Star? Sie nahm das jüngste Kind vom Schoß der glücklich lächelnden Kinderfrau auf den Arm. "Wer ist denn die wunderschöne junge Frau?" fragte ich die Senhora, und sie sagte – ich glaube, doch mit ein wenig Stolz: "Das ist meine Tochter."
Da habe ich mich wieder einmal gefragt, woher das Sanfte und das Gute kommt…
Es kann also auch in einer reichen Villa und in Südamerika zu Hause sein, es wohnt da, wo man es einlässt, auch bei reichen Menschen, bei Plantagen- und Minenbesitzern, ja, es scheint sich dort sogar zu vermehren.
Woher kommt alle diese sanfte, neidlose, selbstlose und doch selbstsichere Liebe, mit der die Menschen so gut und im Frieden leben könnten…