Aus Sicherheitsgründen – man könnte auch sagen aus Angst vor Raubüberfällen – leben die meisten wohlhabenden Brasilianer und vor allem die Ausländer in einem sogenannten Condominium, was übersetzt "Wohngemeinschaften" heißen könnte. Das sind eingezäunte, abgegrenzte und streng bewachte Wohnviertel im Außenbezirk der Städte. Die privaten Einfamilienhäuser mit gepflegten Vorgärten und parkähnlichen Wegen befinden sich auf diesem von hohen Mauern, Stacheldraht und Schranken umgebenen Terrain, dessen einziger Zugang einer Zonengrenzstation oder zumindest einer Mautstelle auf der Autobahn gleicht. Man fährt um das eingezäunte Gelände herum und kommt schließlich an die Kontrollstelle mit Schlagbaum, wo man sich ausweisen muss und seinen Besuch ankündigt. Dann wird nach kritischem prüfenden Blick auf den Inhalt des Autos der Schlagbaum geöffnet und der Besucher durchgelassen. Man fährt die sauberen Straßen entlang, ein Haus wie das andere scheint gepanzert und abgesichert zu sein, und wird das Gefühl nicht los, im Ghetto gelandet zu sein.
Selbst der Autofahrer und Hausbesitzer, dem Wachpersonal am Einlass doch längst bekannt und mit einer weithin sichtbaren hübschen Plakette am Autofenster als Bewohner dieses Condominiums ausgewesen, wird mit einem Kontrollblick bedacht, bevor er passieren kann.
"Und ist man hier wirklich vor Überfällen sicher?"
"Nein, natürlich nicht, man sollte sich noch Warnsysteme, einen scharfen Hund und einen wachsamen Hausmeister leisten. Sicher ist man nie, solange das Gefälle zwischen Armen und Reichen so groß ist. Und man sollte auch nie seinen Reichtum nach außen hin zeigen, sondern schön unauffällig und bescheiden wirken."
" Ja, aber wenn man nun Brillantringe und Schmuck und Kunstschätze oder teure technische Geräte besitzt…?"
"Dann sollte wenigstens das Hauspersonal treu und ehrlich sein und nicht wie neulich in der Nachbarschaft als Verräter und Drahtzieher einen Diebstahl mitorganisieren."
Dann wurde uns eine Story erzählt, die einem Gaunerfilm abgelauscht zu sein scheint:
Um an die Wertgegenstände und die Kunstsammlung eines reichen Ministers heranzukommen, hatten die Diebe einen Fernsehauftritt im großen Stil inszeniert, die Straße abgesperrt, die Übertragungswagen aufgefahren, den Hausmeister bei seiner verantwortungsvollen Tätigkeit gefilmt und mit viel Schmeichelei um den Finger gewickelt, so dass er bereitwillig mitmachte, die Warnanlagen außer Betrieb gesetzt und sich schließlich Zugang zur total gesicherten Wohnung, zu den eigentlich unzugänglichen kostbaren Gemälden und Schätzen und zum gepanzerten Tresor verschafft. Nach einiger Zeit, nach dem "Dreh" also, wie jeder meinte, wurden die Apparate und Kameras und Kisten und Kästen wieder abtransportiert. Natürlich alle anderen Gegenstände, auf die es die Diebe abgesehen hatten, ebenfalls. Wahrscheinlich in eben diesen Kisten und Kästen. Das Wachpersonal soll sogar dabei – aus Unwissenheit oder auch nicht, wer kann das wissen – mitgeholfen haben, die Beute wegzuschleppen. Jedenfalls war der Hausherr nicht schlecht überrascht, seine leere Wohnung vorzufinden.
"Und was meinen Sie, wo war die undichte Stelle?"
"Ach, das wird man nie erfahren, vielleicht war der reiche Mann sogar selbst beteiligt, wenn es sich um einen Versicherungsbetrug handelte. Wer weiß das schon? Korrrupt ist ja manch einer in dieser Gesellschaft… Und woher er überhaupt seinen immensen Reichtum hatte, weiß man ja auch nicht."
Eines Tages, als wir mit einem redseligen Taxifahrer durch Rio fuhren, brach er in fast dieselbe Klage aus, er wiederholte wörtlich diese Rede – "Alles Verbrecher! Wer weiß das schon…" – und erzählte von Betrug, Diebstahl, sozialer Ungerechtigkeit, Raubmord…, "…obwohl doch Rio die Stadt Gottes ist, wo der Redentor Tag und Nacht seine segnenden Arme über sie ausgebreitet hat. Sehr große Kriminalität, es schreit zum Himmel. Jaja, ich weiß, das gibt es in allen Großstädten dieser Welt", sagte er, ", ich weiß, New York, Frankfurt, das ist überall so. Aber nirgendwo ist man so kohupt " – er sprach wie viele Brasilianer das R nicht rollend, sondern wie ein H gehaucht aus - "nirgendwo ist man so kohupt wie in Hio."
Und um dem zu entgehen, verschanzt man sich hinter Gittern, Stahltüren, Porteiros und anderen Wachleuten, Alarmsirenen und bissigen Hunden.
Ist das eigentlich ein schönes Leben?
Traumatisiert seit meiner Kindheit im besetzten und geteilten Nachkriegsdeutschland, empfinde ich diese Lebensweise in den städtischen "Wohngemeinschaften" Brasiliens als beängstigend, einengend, gefängnismäßig. Ein Schlagbaum, uniformierte Grenzbeamte und die Aufforderung, mich auszuweisen, sowas treibt meinen Puls in die Höhe. Die Berliner Mauer, die Sektorengrenze, Vopo-Kontrolle im Zug, Wachtürme, Niemandsland, der Todesstreifen, Verhöre beim Grenzübergang –
Vielleicht liebe ich deswegen das Leben hier auf dem Dorf, weil jeder hier die Türen offenlassen kann, weil am Eingang unserer dörflichen Wohngemeinschaft kein Schlagbaum steht und um das Dorf kein Stacheldraht und keine Mauer gezogen ist, weil es keine Armen gibt (das betonen die Leute hier sehr oft und mit großem Ernst: Hier gibt es keine Armen, das ist wahr!) und weil keiner mit dem, was er vielleicht mehr besitzt als die anderen, angibt und damit Neid und Missgunst heraufbeschwört..
Ein wenig gleichen die Menschen hier im Dorf unserem pakistanischen Freund Tiger, dem Jungen aus dem Asylbewerberheim, der sein Geld immer offen und unachtsam herumliegen ließ.
"Warum passt du nicht auf dein Geld auf? Warum versteckst du es nicht?"
"Ach, wisst ihr", sagte er leise, "wer mir mein Geld wegnimmt, brauchte es sicher dringender als ich. Soll er damit glücklich werden."