Maria – Yemanjá
Für ein Land wie Bahia oder Ost-Brasilien, das so abhängig vom Atlantik ist wie ja auch Portugal, ist eine der bedeutendsten Gottheiten natürlich eine Meergottheit. Die Griechen verehrten in archaischen Zeiten den Meergott Poseidon, die afrikanischen Völker eine Göttin des Meeres, des Salzwassers und der Fische. Diese afrobrasilianische Orixá ist Yemanjá, die Meeresgöttin und Schutzpatronin der Seeleute und Fischer. Sie wird mit dem Ruf "ODOIYÀ" begrüßt und besonders reich beschenkt. Sie gilt als sehr schön und sehr eitel. Deswegen bekommt sie Geschenke und Opfergaben, wie sie einer schönen Frau überreicht werden: Parfüms, Kosmetika, Spiegel, Schmuck und Blumen. Ihre Farben sind Rosa und Himmelblau, ihr Tierkreiszeichen Krebs und ihr Emblem ein silberner Fächer. Die Ziege ist das liturgische Tier, das der Yemanjá für Opferhandlungen beim Candomblé geweiht ist. Ihre Anhänger versammeln sich am Samstag zu Kulthandlungen.
Als wir mit Delmar und Regina am Strand entlangfuhren, zeigten sie uns eine Kapelle, die die Fischer dort zu Ehren der Yemanjá errichtet haben. "ODO YÁ" steht auf der blau getünchten Wand. Der Raum ist gefüllt mit Geschenken, die dort in frommer Andacht und kindlicher Liebe hingelegt wurden: Kerzen, Blumen, Früchte, Konfekt, Gebäck, Puppen, Spielzeug, Fotos und Bilder. Vor allem stehen dort zahlreiche kleine Statuen der Göttin, alle in rosa und hellblaue Gewänder gehüllt, mit Fächer und Krone und Schmuck versehen.
Vor der Kapelle auf einem Denkmalsockel kann man die Göttin bewundern: Sie ist eine Nixe, halb Frau und halb Fisch. Gebieterisch schaut sie über die Bucht und den Hafen, wo die Fischer ihre Boote, Handelsplätze, Bootshäuser und "Büros" haben.
"Für die Göttin Yemanjá gibt es, ähnlich wie für den Senhor do Bonfim, einen großen Feiertag, an dem die Fischer mit ihren Booten voller Geschenke und Opfergaben aufs Meer fahren, um der Gottheit dort draußen zu opfern. Dabei muss man sehr auf die Gezeiten und Meeresströmungen achten, denn wenn die Flut käme und die Gaben alle wieder an Land spülen würde, hieße das ja, dass die Göttin die Geschenke nicht angenommen hat. Und das wäre ein böses Zeichen für die Menschen, die sie verehren", erzählte man uns.
"Und wann ist dieser Feiertag?" fragten wir.
"Am 2. Februar."
"O", sagten wir überrascht, das ist ja Mariä Lichtmess…"
So begriffen wir, dass die Verehrung dieser Yemanjá gleichzeitig der Maria, der Nossa Senhora oder Lieben Frau oder Muttergottes gilt. Denn Mar – ia, der Name sagt das ja schon, gebietet über Meer und Wellen und ist die Patronin der Seefahrer und der Fischer. Sie ist in alten mittellateinischen Liedern der Meerstern: "Meerstern, ich dich grüße, o Maria hilf" oder "Ave, maris stella ".
"Ja", sagten die Freunde. "Die Nossa Senhora oder Maria ist identisch mit der Göttin Yemanjá. Das ist wieder solch ein Beispiel für den Synkretismus hier."
Auf einmal erinnerten wir uns an die seltsamen Vorgänge, die wir in Portugal manchmal in den Tagen der Jahreswende am Strand beobachtet hatten. Da waren Gruppen von Menschen in langen weißen Gewändern gewesen, die sich tänzerisch hin und her bewegten oder in einem Kreis tanzten, sie hielten Kerzen in den Händen, sie streuten Blumen aufs Wasser, es war irgendein feierliches Ritual, als wollten sie das Meer beschwören.
Oft war in den stillen Tagen und Nächten im Dezember ein Altar mit vielen Kerzen und Blumen am Strand gebaut worden, und die Wellen waren gekommen und hatten gierig alles weggeleckt und mitgenommen, aber manchmal wurde auch eine weiße Rose wieder zurück an den Strand gespült.
Am eigenartigsten berührte uns der köstlich gedeckte Gabentisch, den wir einmal am Strand entdeckten. Da waren viele kleine Spitzendecken hingelegt worden, auf denen Sektgläser und Champagnerflaschen, Coca Cola-Flaschen, Tellerchen mit köstlichem Gebäck, Pudding, Reisschälchen, Süßigkeiten, Konfekt, Bonbons und andere Leckereien ausgebreitet waren. Auf einigen Plätzen lagen zierliche rosa und hellblaue Kämme und Spiegel, Seife, Parfüm, Rasierwasser, alles in Rosa und Himmelblau. Alle Arrangements waren mit Blumen, rosa und weißen Nelken, und hellblauen Kerzen dekoriert, die aber vom Wind ausgeblasen worden waren. Über diesen liebevoll aufgebauten Geschenken lag eine sehr merkwürdige und geheimnisvolle Feierlichkeit wie in der Nähe eines Opferaltars. Unser Hund hatte die Tafel aufgespürt und, statt sich über die Herrlichkeiten herzumachen, die er sonst immer erbettelt und gierig verschlingt, schlich scheu um die zwanzig gedeckten "Gabentischlein" im Sand herum. Er schnupperte nur ganz vorsichtig, sprungbereit, alarmbereit. Er rührte nichts an. Wir rührten auch nichts an: Die nächste Flut würde kommen und sich diese Liebesgaben holen.
Niemand konnte oder wollte uns je erklären, was dieses rituelle Opfer bedeutete und für wen es bestimmt war.
Und nun auf einmal, hier in Brasilien am Atlantikstrand, verstanden wir –