16. Lebenshunger

Verfasst am: 7. August 2003 von Barbara Keine Kommentare

Wir waren tagsüber durch die Lapa gestreift, das ist das Zentrum oder die Altstadt von Rio, die am Vormittag so glanzlos und armselig daliegt, wie überall in der Welt die Hafen- und Altstadt-Viertel von Großstädten daliegen.  Da steht am Largo da Carioca eine ganz neue Kirche, wie ein Zelt gebaut, die 20.000 Menschen beherbergen kann. In der Nähe sieht man die 220 m lange Arkadenreihe, die 60 m hohen Arcos da Lapa. Dieses ehemalige Aquädukt ist wie der Zuckerhut und der Segnende Jesus auf dem Corcovado ein Wahrzeichen der Stadt Rio. Hagen kaufte sich ein von einem Argentinier handbemaltes T-Shirt als Erinnerung an Rio mit eben dieser Bogenreihe, über die der goldene Bondinho fährt, Rios einstige Straßenbahn, heute auch schon total  modernisiert. Irgendwie ist das ganze Viertel immer noch die Hochburg der Bohemiens, Künstler, Musiker und Transvestiten. Aber davon bemerkt man tagsüber kaum etwas, wenn man da in den nicht ganz so herrlichen Gassen der "cidade maravilha" herumspaziert.
"Geht da bloß nicht als Touristen hin! " warnten uns viele. "Wir leben schon 20 Jahre hier, aber in der Lapa waren wir noch nicht ein einziges Mal!"

Dann aber zogen wir an einem Freitagabend in größerer Besatzung wieder los.
Welch ein quirliges munteres Leben in der Neonbeleuchtung!
Alles glitzerte, funkelte, war voller Musik und Leben und Autos und Menschen.
Wir waren eigentlich verhältnismäßig früh in den abenteuerlichen Cafés und Musikkneipen erschienen, aber es war nirgends mehr ein Platz zu finden, alles war überfüllt, reserviert, besetzt, obwohl die Musikgruppen erst viel später auftreten. Aber mehr als "alles mal ansehen" wollte ich sowieso nicht. Es genügte, um durch mehrere dieser Künstlerlokale zu streifen und die seltsamsten Menschen und Dinge zu entdecken: "Guck mal, hier kämen unser kaputter Spiegel und dein abgeschabter Frack  auch noch fantastisch zur Geltung." Morbider Charme. Plunder. Plüsch und Federboa. Sehr dekorativ. Und die vielen jungen Menschen. Sitzen da an Caféhaustischchen und diskutieren, und in ihren Augen spiegelt sich das Licht der Kerzen oder Glühbirnen. Gierige Augen.

Wir zogen durch viele Musiklokale. Auf den nächtlichen Straßen pulsierte das Leben. Wunderschön aufgetakelte, langbeinige (Männer)-Frauen stolzierten unter den Strömen von Besuchern herum. Falsche Wimpern klapperten. Suchende Blicke. Die spärliche Straßenbeleuchtung wirkte geheimnisvoll-erregend. Straßauf, straßab. Was suchen diese Menschen eigentlich?
Wir saßen in der Bar bzw. im Restaurant ERNESTO, wo jeden Freitag eine Musikgruppe auftritt und vorwiegend alte Schlager oder Sambarhythmen singt und spielt. Am Nebentisch feierte man mit viel Bier den Geburtstag einer jungen, schon ziemlich verlebten Frau. Die 20 jungen Leute am langen Tisch schwatzten, rauchten, prosteten sich zu, umarmten sich, bestellten noch ein eisgekühltes Bier, küssten sich und versprühten Lebensfreude oder was sie dafür hielten. Moderne Leute feiern heutzutage Geburtstag, indem alle in einer Kneipe ihre eigene Rechnung und dann ebenfalls die des Geburtstagskindes, das sie eingeladen hat, bezahlen. Da macht dann ein Jubiläum wieder Spaß. Und Spaß hatten sie alle hier wohl reichlich.
Später erschien noch ein weiterer Gast, ein junger Priester vom Seminar. Er erklärte uns, dass er erst Anwärter, also Seminarist ist, was wohl seinen Aufenthalt in dieser munteren Gruppe und das Abrutschen in die Weltlichkeit entschuldigen sollte. Ein atemberaubend schöner brasilianischer Jungpriester, der alle Sünden der Welt zu kennen und sich seine eigenen und die der anderen Menschen lächelnd zu vergeben schien. Sein Beichtstuhl wird später gewiss sehr frequentiert sein… Wenn irgendwo noch einmal die Filmrolle des Pater Ralph neu besetzt werden muss, dann sollte man diesen Adonis im frommen Habit suchen, engelsgleich und betörend. Als wir gingen, tanzte er – und wie Brasilianer tanzen! Erotisch, eindeutig zweideutig – mit der Geburtstagsfrau, die bestimmt nicht seine Schwester oder Cousine, noch weniger eine "Schwester im Herrn" war.
Gegenüber am Tisch, Logenplatz, hockten zwei ältere Herren (wie die Opas in der "Sesamstraße", nein, etwas jünger und eleganter, eben brasilianisch). Nachdem sie langsam und genüßlich ihr Abendessen verspeist hatten, setzten sie sich erwartungsvoll hinter ihr Bierglas und ließen die Blicke schweifen. Echte Kenner. Sie genossen den Soundcheck und die Vorbereitungen für den Auftritt des Sängers und begannen mitzusingen, als der die ersten Lieder zum Besten gab. Sie kannten alle Texte, bewegten die Lippen und wiegten sich mit verklärten Gesichtern bei den Melodien. Vielleicht waren das Gilberto Gil und Milton Nascimento, jene Altmeister und Volkshelden Rios. Aber auch wenn sie es nicht waren, natürlich waren sie es nicht, wurde doch klar, dass jeder Brasilianer Musiker ist, wie man so sagt, und dass Musik, wie auch immer, zum Leben gehört.

Später schoben wir uns mit tausend anderen Menschen durch die Gassen der Lapa. Die Lapa bei Nacht, oi, a Lapa é dez! – so viel Jugend, so viel nackte Haut, so viele Rassen, so viele Gerüche. Die Treppe, die am Tag wenig einladend dagelegen hatte, glitzerte verheißungsvoll und zauberhaft. Die Moasikbildchen aus Azulejos an den Stufen  schimmerten und lockten. Eng und schwül war es, und die Menschenmenge wogte auf und ab. Aus jedem geöffneten Fenster und aus allen Türen drang Musik. Wo immer ein Plätzchen frei war, wurde getanzt. Gleich schauten viele zu. Händler boten billigen Schmuck an. Alte obdachlose Frauen mit hundert Plastiktüten bahnten sich murmelnd einen Weg durch die Menge, die aufgeregt wie ein Wespenschwarm summte. Räucherstäbchen und Haschzigaretten verbreiteten ihren süßlichen Geruch. Jeder nackte Arm, der einen streifte, roch anders, roch nach Parfüm oder Schweiß.
Und eins war allen diesen fremden Menschen gemeinsam: Sie hatten so hungrige Augen. Sie schauten wild und gierig herum. Augen voller Erlebnishunger, voller Lebensgier. Wie diese Augen dich anblitzten, suchend, versprechend, hungrig.
Ein summender Wespenschwarm, Blutsauger.

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