Leonor und ihr deutscher Mann Georg besitzen einen Fels. Einen richtig urzeitlich riesigen runden Felsbrocken mitten im brasilianischen Urwald, wo es modrig riecht und tropisch-feucht grünt und sprießt. Die Luft ist so warm, der Waldboden so fruchtbar, dass man meint, man höre und sehe geradezu die Bäume wachsen. Sie wachsen und treiben und grünen. Man hört auch den Regen tropfen und die Mücken surren, die ihre Angriffe fliegen (vornehmlich auf Alexanders Beine).
In diesem, allerdings eingezäunten und gewissermaßen domestizierten, Urwald erhebt sich der Felsen aus Granit und ragt in den Himmel. Nein, er ragt nicht nur, er wird noch überragt. Hoch über ihm, wo sich zwei gewaltige Gesteinsblöcke gegeneinander lehnen und eine Grotte bilden, wächst ein riesiger Urwaldbaum. Wo hält der Baum sich fest? Woher zieht er seine Kraft? Seine Wurzeln wachsen durch den Spalt in die Grotte hinein, halten sich an den glatten Wänden fest, bilden mit den daran hängenden Tropfen einen Perlenvorhang. Auf dem Boden der Grotte leuchten Kerzen. Die granitenen Wände schimmern transzendierend.
Diese Felshöhle, die sich ins bewaldete Tal hinein öffnet, ist ein fast mystischer Ort, weltenfern, abgehoben. Ein Ort zum Meditieren.
Georg legte sich auf einen flachen Felsvorsprung und schaute in den Himmel. Er träumte – er träumt – seinen Traum vom Felsen. Ein Mann, ein Felsen und ein Traum.
Hagen meditierte ebenfalls, während Leonor die Geschichte von der kleinen Languste und ihrer saudade vorlas. Die Languste zieht es zum Meer, die Gottesmänner zieht es zum Felsen: In der Bibel gibt es viele wichtige Bezüge zur Bedeutung des Felsens für unser Leben. Gott selbst wird mit einem Felsen verglichen, auf dem wir stehen können; auf dem Felsen gibt es viele Begegnungen mit dem Heiligen; in der Höhle des Felsens ist Mose in dem Augenblick geborgen, als Gott sich offenbart, denn ein Schauen von Angesicht zu Angesicht würde tödlich ausgehen. Die Psalmen erzählen viel vom "starken Fels", aber auch von Gottes Kraft, die Felsen zerreißen kann. In einem englischen Lied heißt es:
"Ewger Felsen, öffne dich,
in dir möcht ich bergen mich…"
Glücklich der Mann, der sein Leben auf Felsen gründen kann,
der nichts "in den Sand setzt".