Zwei Briefe und eine wiedergefundene Weihnachtsgeschichte 

  

Sehr geehrte Frau Seuffert,

mein Name ist Francisco Nunes. Ich suche schon sehr lange nach meiner Deutschlehrerin aus meiner 5. und 6. Klasse des Gutenberg-Gymnasiums in Wiesbaden und hoffe, dass Sie es sind. Leider weiß ich sehr wenig über meine Deutschlehrerin. Lediglich, dass sie Autorin war, Kinderbücher geschrieben hat und dass sie mit meiner Klasse ein Theaterstück aufgeführt hat, zu dessen Drehbuch ich die Geschichte beigetragen habe. Der Grund, warum ich sie suche, ist, dass sie damals (1988-1989) Weihnachtsmannaufsätze aus dem Schulunterricht in einem Buch veröffentlichen wollte. Einer dieser Weihnachtsmannaufsätze stammte von mir. Meine Eltern haben aber damals versäumt, es zu kaufen. Gibt es dieses Buch noch und wenn ja, wie lautet der Titel? Es ist mir Herzenswunsch, dieses Buch zu erwerben.

Meine Deutschlehrerin ist in der 6. Klasse sehr plötzlich aus dem Unterricht verschwunden. Es hieß, dass sie Krebs habe. Und ich habe danach nicht wieder von ihr gehört. Über das Stichwort Krebserkrankung (Google) habe ich Sie
gefunden und hoffe dass ich die richtige Person gefunden habe. Das würde auch die offene Frage klären, was aus meiner Lehrerin geworden ist und wie es ihr geht.

Ich hoffe, Sie finden die Zeit mir zu antworten, es wäre mir eine große Hilfe.

Mit freundlichem weihnachtlichen Gruß
Francisco Nunes

***

Liebe Frau Seuffert,

danke für Ihre schnelle Antwort. Ich freue mich sehr, dass es Ihnen gut geht. Es hat mich besonders gefreut, dass Sie sich noch an mich erinnern.
Damals als ich in der 6. Klasse war, war die Schule noch sehr schön. Ab der 7. Klasse wurde es sehr schlimm. Weil ich Latein als 2. Fremdsprache wählte, kam ich in eine neue Klasse und war dort viele Jahre sehr unglücklich. Es war eine schwierige Klasse mit vielen Migranten-Kindern aus unterschiedlichen sozialen Milieus. Und Herr N. unser Klassenlehrer, mit seiner schwierigen Art, tat sein Übriges.
Wie kommt es, dass Sie in Portugal leben?
Ich hatte früher einen portugiesischen Pass. Meine Eltern stammen aus Goa, einer ehemaligen portugiesischen Kolonie in Indien. Wir haben auch eine Wohnung in Fatima, aber ich war schon lange nicht mehr dort. Ich spreche auch selbst kein Portugiesisch, im Gegensatz zu meiner Mutter.
Schade, dass damals nichts aus dem Buch geworden ist, aber gut, dass diese Frage nun geklärt ist. Ich habe noch gar nicht selbst nach meiner damaligen Geschichte gesucht. Vielleicht finde ich Sie noch irgendwo im Keller.

***

Und hier ist die nach zwanzig Jahren wiedergefundene Geschichte von Francisco:

Francisco und das 55 cm dicke Nikolausbuch

Francisco ist ein vergnügter schwarzhaariger Junge, der voller Einfälle und Ideen steckt. Deswegen kann er in der Schule auch gar nicht so richtig still sitzen. Er kennt viele Geschichten und wusste gleich, wo das Märchen zu finden ist, das die Lehrerin suchte.

Die Klasse wollte nämlich Theater spielen. Aber gibt es ein Theaterstück mit 30 Hauptrollen?
Man müsste es höchstens ganz neu schreiben. Deshalb suchte die Lehrerin also ein Märchen, in dem viele Ritter, Prinzessinnen, Händler und schöne Damen vorkommen. "Kennt einer von euch solch ein Märchen? Es müsste in einem fernen Land spielen, damit ihr euch alle prachtvolle Gewänder anziehen könnt. Wer kennt eine solche Geschichte?"

Am nächsten Tag brachte Francisco sein dickes Märchenbuch mit. In dem stand genau das orientalische Märchen mit 30 wichtigen Personen für das Theaterspiel. Das war der Lehrerin noch nie passiert, dass ein Schüler so schnell und glücklich geholfen hat, ein Problem zu lösen. Da hatte sie den Francisco noch lieber.
Ja, der Francisco weiß, was die Menschen für Träume und Wünsche haben. Er fühlt es, er ahnt es.

So schrieb er auch einen besonderen Aufsatz in der Adventszeit. Er schrieb, wie der Nikolaus in den Kindergarten gekommen war, damals, als Francisco fünf Jahre alt war. Alle Kinder bekamen ein Geschenk und einige lobend oder ermahnende Worte vom Nikolaus. Aber das waren ja keine Kindergartenkinder! Das waren ja die Schulkameraden aus Franciscos Klasse.
Für die hatte der Nikolaus das passende Wort und das richtige Geschenk. Das hatte sich Francisco gut ausgedacht, denn der Nikolaus ist eigentlich nur ein Vorbote vom Christkind.
Er soll die Kinder auf den Gottessohn aufmerksam machen, der noch viel freundlicher zu allen ist. Und damit die Zeit des Wartens bis zum Heiligen Abend nicht zu lange dauert, ist es gut, dass zwischendurch einmal etwas Überraschendes geschieht.

In Franciscos Aufsatz stapfte also jemand über den Flur, dann klopfte es, und die Kinder erschraken. Die Leiterin öffnete die Tür, und herein polterte der Nikolaus. Er trug die hohe Bischofsmütze auf dem Haupt und war in einen kostbaren Mantel aus Brokat gehüllt. In der Hand hielt er den goldenen Krummstab. Da er so gütig lächelte, fassten sich die Kinder schnell ein Herz und boten dem Nikolaus einen Stuhl an. Dann sangen sie das Lied: "Lasst uns froh und munter sein" und schauten ihn erwartungsvoll an.
"Wart ihr denn alle lieb?", fragte er darauf, und sie sagten natürlich alle: "JA!" Der Nikolaus lächelte und holte ein großes Buch aus dem mitgebrachten Sack.
"Wollen wir doch einmal sehen…", brummte er.

Francisco schrieb, dass das Buch 55 cm dick gewesen ist, das ist mehr als ein halber Meter. Und außerdem war es so schwer, dass der alte Mann es kaum halten konnte.
Gibt es denn so ein dickes Buch? Nun ja, wenn alle Kinder auf der ganzen Welt darin genannt werden…

Also, in dem 55 cm dicken Nikolausbuch standen alle Namen aus Franciscos Klasse. Und bei jedem Namen eine Bemerkung und dann noch ein Hinweis für das Geschenk. Da las der Nikolaus vor, dass der Marco den Oliver boxt und deshalb nur eine Kassette bekommt. Dass der Frank einen Füller, der Matthias ein Buch, Francisco ein Plastikschwert und die Lehrerin einen hübschen Blumenstrauß bekommen sollte. Alle waren ganz aufgeregt und betrachteten die Geschenke und redeten und lachten.
Und plötzlich war der Nikolaus verschwunden.
War es überhaupt ein Nikolaus?
War es Francisco, der alle fröhlich machen wollte?
War die Geschichte erfunden?

Fragt doch den Francisco!