AZOREN-TAGEBUCH    DIÁRIO AÇORIANO

  Barbara Seuffert © 2004

 

 

2.

Am 2. Tag waren wir merkwürdigerweise schon eine Gruppe mit Zusammengehörigkeitsgefühl. Und wie in jeder Gruppe entwickelte sich da so eine eigene Dynamik mit Positionen und Beziehungen untereinander. Kam das durch diese Nachmittagsfahrt auf S. Miguel oder durch die Flugreise und das gemeinsame Hotel, in dem die Schafherde gemeinsam zur Futterstelle ging und den Anweisungen des Hirten folgte?

Die Gruppe
Wir waren überhaupt nicht mehr gewohnt, in einer Gruppe zu reisen, und wir staunten, dass diese portugiesischen Mitreisenden so diszipliniert und folgsam waren. Ein Volk, wie geschaffen für einen Diktator. Wenn die Leute Willi und Elfriede geheißen hätten und man jedes Wort von ihnen verstanden hätte, wären sie vielleicht unerträglich gewesen, aber sie hießen ja Maria do Rosário, Lurdes, Fátima und Fernando, Paulo, Manuel und sprachen fließend portugiesisch und hatten das ungebrochene Selbstbewusstsein von Leuten, denen das alles gehört. Die Azoren gehören den Portugiesen. Basta.

Ja, pünktlich, diszipliniert und interessiert waren sie, so erstaunlich das sein mag. Welche superpünktliche preußische Pünktlichkeit!! Wenn die Reiseleiterin uns um Viertel vor acht zur Abreise bestellte, dann standen sie alle schon 20 Minuten vor acht Uhr bereit.
Die verrückten Alten belächelten sie milde und ließen sie gewähren.
Keiner von ihnen meckerte oder hatte etwas zu kritisieren, stellte unbequeme Fragen oder benahm sich intolerant und eigensinnig.
Irgendwie kamen mir alle sehr angepasst und wie willige Schäflein vor, die blind vertrauten.
Die Frauen, immer brav ihrem treusorgenden Familienvorstand folgend, trugen ständig Schmuck, Perlonblusen und Schuhe mit hohen Absätzen. So wanderten sie über die Vulkanberge und Wiesenpfade und stiegen bei jedem Aufenthalt frisch und adrett aus dem Bus, getreu der Werbung für Haarspray: "Schon die dritte Insel unterm Wind - und die Frisur sitzt!!"

Allerdings: die Handys.
Sie klingelten in allen Tonlagen immer und überall. 45 Leute mit 44 Handys mit je anderer Melodie. Wenn mir Heinz nicht schon von seiner Studienfahrt mit den Berliner Schülern und ihren nervtötenden Handys erzählt hätte, wäre ich ziemlich geschockt gewesen. Da wurde ständig angerufen: "Ja, ich bin gerade auf den Azoren, ja, sehr schönes Wetter hier, ja, das Essen ist sehr gut, ja, die Reise ist sehr gut, ja, die Hotels sind sehr gut, ja, mir geht es sehr gut. " Alles war von morgens bis nachts sehr gut - muito boa. Sehr spracharm, die Leute, obwohl sie doch von Lisboa und von Porto kamen und nicht aus meinem wortkargen Bauernvölkchen.

Und zweitens allerdings: die Esslust.
Zu der Pauschalreise gehörten natürlich auch die Vollpensions-Mahlzeiten. Und ich konnte - trotz hartem Training bei den Riesenhochzeiten und trotz der jahrelangen Erfahrung, wie die Essgewohnheiten auf dem Dorf so sind, - es nicht fassen (weder theoretisch noch praktisch), was diese Leute verzehren können. Mittags ein 4-Gänge-Menü und abends ein 4-Gänge-Menü, Suppe, Fisch, Fleisch, Gemüse, Nachtisch... und zuletzt immer das Tröpfchen Kaffee mit einem Esslöffel Zucker.
Ich fürchtete mich richtig vor den Restaurants, wo uns ein Selbstbedienungsbuffet erwartete, weil dieser Sturm auf die Töpfe und Pfannen mir animalisch vorkam. Wir hatten ja auf der Fahrt zu den Fleischtöpfen und köstlichen Fischgerichten, zu den Bergen von Braten, Thunfisch, Würsten, Reis, Kartoffeln, Gemüse und Torten schon mehrere Weinproben und Käseproben in den herrlichen Käsereien der Inseln hinter uns, so manches Tässchen Mokka geschlürft und die vorhergehende Mahlzeit noch schwer im Magen. Diese unbegrenzte Freude bei der Nahrungsaufnahme, diese erstaunlichen Kapazitäten, diese Essgier - das war ein echtes Phänomen.

An sich waren es ja dieselben Typen wie Heinz und Elfriede:

  1. der Oberlehrer
  2. der Angeber mit Mundgeruch, der eine sehr dicke Unterlippe hat und unaufhörlich schwätzt,
  3. seine Frau, die neben ihm nichts zu sagen hat und heimlich wilde verbotene Blumen klaut, die sie dann doch aus dem Fenster schmeißt
  4. der junge Aufseher (Nachtwächter, vigilant) vom Fernsehen RTP mit den sanften schwarzen Augen
  5. seine Frau ist Krankenschwester und knabbert schrecklich an den Nägeln,
  6. der Mann mit kindlich-offenem Mund, der immer bestätigend nickend neben dem Reiseleiter steht und dessen Ausführungen mit reicher Mimik und Gestik begleitet, kein Wort entgeht ihm,
  7. das goldene Ehepaar auf 50-jähriger Hochzeitsreise: er bewegt sich wie eine ferngesteuerte Mumie, sie macht auf jung, will nicht alt werden, braucht dauernd Augentropfen und pliert, statt eine Brille zu tragen
  8. ein älterer Mann in devoter Haltung: "Die Fahrausweise bitte!", den ich "Bahnwärter Thiel" nannte, bis Hagen einiges herausgefragt hatte: Er ist wirklich Eisenbahnschaffner! - von Regua bis Faro: "Die Fahrausweise bitte!"
  9. die beleidigte Ehefrau, die immer leidend zuhause im Hotel bleibt - Warum macht sie eine solche Reise mit?? Heimlich raucht sie Zigaretten und huscht scheu und neurotisch an der Wand lang.
  10. ein Paar auf Hochzeitsreise, er hat Schultern wie ein Hoftor. Ich fragte, ob er Bodybuilding macht, da sagt die Braut: "Nein, er isst so viel." Er sprach nicht ein Wort, bewegte sich kaum und schmuste auch nicht, aber (fr)essen konnte er wirklich wie ein "Öhmdstier" (würde Brigitta sagen).
  11. eine Lehrerin, fröhliche Schnatterente, singt mit dem netten Herrn aus der letzten Bankreihe (seine Vorfahren seien Wikinger, nana! Hägar, der Schreckliche, der Schwerenöter) zusammen Lieder von Nordportugal und vinho verde. Die französische Dame erfuhr, dass der Herr nicht ihr Gatte war, und meinte: "Ach, deshalb sind Sie so fröhlich."
  12. Dessen Frau sitzt immer wie eine prallgefüllte Leberwurst mit 8 Goldringen, 4 Armbändern und 3 goldenen Ketten da, völlig unbewegt, unbeweglich und ungerührt.
  13. der Mann, der mal einen Kopfschuss hatte und mit sehr ausgestellten Füßen geht
  14. noch ein Pärchen, der junge Mann, blond und blauäugig, hat eine deutsche Großmutter und den ersten Platz im Bus gepachtet, seine Frau macht sich Zöpfchen und bleibt das liebe Kind in der Begleitung der braven Mama und des fetten, pustenden Papas
  15. zwei vierzehnjährige Jungen, die wahnsinnig schnell wahnsinnig viel essen können und bei der Busfahrt verbissen und halbverhungert Nägel kauen.

Mit dieser Gruppe also begann die Besichtigung der Insel Terceira am 2. Tag der Reise. Ein schnell schwätzender, sehr patriotisch denkender und höchst engagierter Führer übernahm die Reiseleitung und fuhr mit uns auf den Monte Brazil, wo eine Festung an alte Zeiten, Seeschlachten und Helden erinnert, schließlich heißt die Hauptstadt "Angra do Heroismo". Der Leiter zeigte alte Seekarten, Kupferstiche mit Flotten und Stadtanlagen, wies vom Aussichtsturm auf den herrlichen Hafen und die Gebäude hin, "Weltkulturerbe", ließ sich von seiner Begeisterung in schwindelnde Höhen tragen, redete wie ein Maschinengewehr - naja, das kann man ja alles in den Büchern nachlesen, dachte ich. Gefühl ist alles, die Zahlen versteh ich jetzt nicht, aber das Lied von Hanns Dieter Hüsch passt:

Ich seh' ein Land mit neuen Bäumen.
Ich seh' ein Haus aus grünem Strauch.
Und einen Fluss mit flinken Fischen.
Und einen Himmel aus Hortensien seh ich auch.

Dann fuhren wir über das Land zur Nordseite der Insel, nach Biscoito, wo aus porösen Lavafelsen (wie Biskuit!) natürliche Schwimmbassins entstanden sind, in denen das klare warme Wasser sprudelt.
Besuch einer Kelterei und eines kleinen Heimatmuseums. Der Wein heißt "Mein Cousin", und ist sicher der umwerfendste Cousin, den ich kenne, süß und voll wie Sherry.
Milchkühe und Stiere auf den Weiden. Mäuerchen aus schwarzem Basalt und dunkelbraunen Lavabrocken umgrenzen jedes Geviert, so dass eine grüne Patchworkdecke aus Wiesen entsteht. Auch der Wein gedeiht in solchen kleinen Mauereinfassungen. Die Reben liegen auf der schwarzen Erde, 5 Pflanzen in einem Mauerviereck, wo sie regelrecht gekocht werden. Die schwarzen Basaltmauern seien auch ein Schutz gegen die starken Winde, Zyklonen, die sich hier von den 3 Kontinenten treffen (Eurasien, Afrik- und Ameriko), und mit 180 km/h über die Inseln fegen.
Und nun die große Frage an den überaus klugen Terceira-Chauvi: "Wie entsteht eigentlich das Azorenhoch?"
Also, er war so glücklich und beredt, als mache er selbst das Wetter für ganz Europa, also, hier treffen sich diese Luftmassen (die Heiligen 3 Könige als Vertreter der damals bekannten Erdteile, nein, noch aktueller: Gipfeltreffen mit Bush wegen Irak!!) und stimmen sich aufeinander ab, werden zu einem wohltemperierten Windchen, und ausgeglichen strömt ein Hochdruckgebiet östlich nach Euopa. Und wie er das sagte!! "Wir machen das schöne Wetter für Europa!" Selbstbewusster und stolzer kann niemand sein. Weiß nicht mal, wie dieser Azoreaner hieß...

Der Mais sei hier so mickrig, hatten wir gesagt, denn in Carregosa sind die Felder dunkelgrün und mannshoch. Das war ihnen zu negativ. "Der wächst noch!" protestierten sie. Bei der Fahrt durch ein Dorf sprangen sie auf und wiesen Hagen aufgeregt und begeistert auf das Feld hin: "Olá, schauen Sie mal raus, wie hoch hier der Mais steht!" Die Ehre Portugals war gerettet.

Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
fest steht und treu der Mais am Rain.

Wir fuhren zu einem Freilichtmuseum "Quinta do Martelo", das ist ein ganzes Dorf im alten traditionellen Stil angelegt, mit Töpferei und Weberei, Schumacherei, Kaufmannsladen, Bauernhof, Gemüsegarten, Wohnhäusern, niedrige Katen, mit Reet gedeckt, von blühenden Kräutergärtchen umgeben, Yamwurzeln und Lilien, Zitronen und Apfelsinen gibt es nicht auf diesen Inseln, überhaupt nicht...
In der urigen Kneipe gab es wunderbares Mittagessen in irdenen Töpfen und Wein aus irdenen Bechern und auf handgewebten Decken: Aperitivo, Brot, Kohlsuppe, Rindfleisch (cozido, à moda portuguesa), Milchreis und Kaffee.

Danach fuhr man durch das Heidegebiet (wie in der Eifel) - Urze heißt das Heidekraut, wird baumhoch - zu einem erloschenen Vulkan Algar do Carvão, der durch einen Seitentunnel zugänglich gemacht wurde. Viele hundert Meter steigt man ins Erdinnere hinab, ohne bis an die tiefste Stelle zu gelangen, als stiege man in die Bauchhöhle der Erde. Wasser tropft von den Wänden. Von irgendwoher kommen Klänge wie in einem tibetanischen Kloster, dong - ping - om - om... Ganz oben die Öffnung des Kraterlochs: ein Stück blauer Himmel ist über dem moosigen Rand zu sehen. Da gibt es doch diese gruselige Geschichte von einem Studenten, der in solche Höhle hineinsteigt und nie wieder hinauskommt, weil die Wände sich über ihm wölben und zuspitzen: "Lass dich doch einmal hinauf", absolut schaurig.

Dann besser die Erinnerung an den Mann, der sich mit seiner Flöte in die Cheops-Pyramide einschließen ließ und dort eine Nacht lang dem Hall der Töne lauschte. Die Kassette hat Hella: Im Innern der großen Pyramide.

Viel erfahren wir über die Bruderschaften des Heiligen Geistes (Irmandades de Santo Espírito), die ihre hübschen bunt bemalten "Impérios", kleine Glaskapellen, neben den Hauptkirchen errichtet haben. Diese Irmandades oder Kirchenvorstände übernehmen die soziale Tätigkeit, kümmern sich um die Armen und sorgen für deren Auskommen. Das Fest des Sto. Espírito feierten wir dann am Sonntag in S. Miguel mit.

Terceira ist mit seinen vielen Kirchen und Kapellen, Heiligen und Wundertätern tatsächlich eine "Religiöse Insel", a Ilha Religiosa. Dazu immer wieder die Blumenpracht, blaue und weiße Hortensienhecken mit Röschen, aber auch rosa Hortensien, die Rainer Maria - gottseidank! - auch bedichtet hat:

Rosa Hortensie

Wer nahm das Rosa an? Wer wusste auch,
dass es sich sammelte in diesen Dolden?
Wie Dinge unter Gold, die sich entgolden,
entröten sie sich sanft, wie im Gebrauch.

Dass sie für solches Rosa nichts verlangen.
Bleibt es für sie und lächelt aus der Luft?
Sind Engel da, es zärtlich zu empfangen,
wenn es vergeht, großmütig wie ein Duft?

Oder vielleicht auch geben sie es preis,
damit es nie erführe vom Verblühn.
Doch unter diesem Rosa hat ein Grün
gehorcht, das jetzt verwelkt und alles weiß.


Abends im Hotel findet ein Folklore-Abend statt: 2 Gitarren und 3 Sänger. "Gosto muito dos teus olhos negros", singen sie, und unsere Dona Graça judert im höchsten Sopran mit. Die Inselbewohner sind scheinbar eine Mischung aus allen Seefahrern der Welt, die hier je vor Anker gingen: schwarz, klein, rund oder groß, knochig, blauäugig.

Das war erst der 2. Tag, und wir sind schon so erfüllt und voller Eindrücke, dass es kaum noch erträglich ist. Der Film ist voll, die Diafilme verknipst, und wir kriegen keine neuen. Ist doch fast eine Metapher. Der Film ist voll...

Fortsetzung folgt

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