2.
Am 2. Tag waren wir merkwürdigerweise schon eine Gruppe mit Zusammengehörigkeitsgefühl.
Und wie in jeder Gruppe entwickelte sich da so eine eigene Dynamik mit
Positionen und Beziehungen untereinander. Kam das durch diese Nachmittagsfahrt
auf S. Miguel oder durch die Flugreise und das gemeinsame Hotel, in dem
die Schafherde gemeinsam zur Futterstelle ging und den Anweisungen des
Hirten folgte?
Die Gruppe
Wir waren überhaupt nicht mehr gewohnt, in einer Gruppe zu reisen,
und wir staunten, dass diese portugiesischen Mitreisenden so diszipliniert
und folgsam waren. Ein Volk, wie geschaffen für einen Diktator. Wenn
die Leute Willi und Elfriede geheißen hätten und man jedes
Wort von ihnen verstanden hätte, wären sie vielleicht unerträglich
gewesen, aber sie hießen ja Maria do Rosário, Lurdes, Fátima
und Fernando, Paulo, Manuel und sprachen fließend portugiesisch
und hatten das ungebrochene Selbstbewusstsein von Leuten, denen das alles
gehört. Die Azoren gehören den Portugiesen. Basta.
Ja, pünktlich, diszipliniert und interessiert waren sie, so erstaunlich
das sein mag. Welche superpünktliche preußische Pünktlichkeit!!
Wenn die Reiseleiterin uns um Viertel vor acht zur Abreise bestellte,
dann standen sie alle schon 20 Minuten vor acht Uhr bereit.
Die verrückten Alten belächelten sie milde und ließen
sie gewähren.
Keiner von ihnen meckerte oder hatte etwas zu kritisieren, stellte unbequeme
Fragen oder benahm sich intolerant und eigensinnig.
Irgendwie kamen mir alle sehr angepasst und wie willige Schäflein
vor, die blind vertrauten.
Die Frauen, immer brav ihrem treusorgenden Familienvorstand folgend, trugen
ständig Schmuck, Perlonblusen und Schuhe mit hohen Absätzen.
So wanderten sie über die Vulkanberge und Wiesenpfade und stiegen
bei jedem Aufenthalt frisch und adrett aus dem Bus, getreu der Werbung
für Haarspray: "Schon die dritte Insel unterm Wind - und die
Frisur sitzt!!"
Allerdings: die Handys.
Sie klingelten in allen Tonlagen immer und überall. 45 Leute mit
44 Handys mit je anderer Melodie. Wenn mir Heinz nicht schon von seiner
Studienfahrt mit den Berliner Schülern und ihren nervtötenden
Handys erzählt hätte, wäre ich ziemlich geschockt gewesen.
Da wurde ständig angerufen: "Ja, ich bin gerade auf den Azoren,
ja, sehr schönes Wetter hier, ja, das Essen ist sehr gut, ja, die
Reise ist sehr gut, ja, die Hotels sind sehr gut, ja, mir geht es sehr
gut. " Alles war von morgens bis nachts sehr gut - muito boa. Sehr
spracharm, die Leute, obwohl sie doch von Lisboa und von Porto kamen und
nicht aus meinem wortkargen Bauernvölkchen.
Und zweitens allerdings: die Esslust.
Zu der Pauschalreise gehörten natürlich auch die Vollpensions-Mahlzeiten.
Und ich konnte - trotz hartem Training bei den Riesenhochzeiten und trotz
der jahrelangen Erfahrung, wie die Essgewohnheiten auf dem Dorf so sind,
- es nicht fassen (weder theoretisch noch praktisch), was diese Leute
verzehren können. Mittags ein 4-Gänge-Menü und abends ein
4-Gänge-Menü, Suppe, Fisch, Fleisch, Gemüse, Nachtisch...
und zuletzt immer das Tröpfchen Kaffee mit einem Esslöffel Zucker.
Ich fürchtete mich richtig vor den Restaurants, wo uns ein Selbstbedienungsbuffet
erwartete, weil dieser Sturm auf die Töpfe und Pfannen mir animalisch
vorkam. Wir hatten ja auf der Fahrt zu den Fleischtöpfen und köstlichen
Fischgerichten, zu den Bergen von Braten, Thunfisch, Würsten, Reis,
Kartoffeln, Gemüse und Torten schon mehrere Weinproben und Käseproben
in den herrlichen Käsereien der Inseln hinter uns, so manches Tässchen
Mokka geschlürft und die vorhergehende Mahlzeit noch schwer im Magen.
Diese unbegrenzte Freude bei der Nahrungsaufnahme, diese erstaunlichen
Kapazitäten, diese Essgier - das war ein echtes Phänomen.
An sich waren es ja dieselben Typen wie Heinz und Elfriede:
- der Oberlehrer
- der Angeber mit Mundgeruch, der eine sehr dicke Unterlippe hat und
unaufhörlich schwätzt,
- seine Frau, die neben ihm nichts zu sagen hat und heimlich wilde verbotene
Blumen klaut, die sie dann doch aus dem Fenster schmeißt
- der junge Aufseher (Nachtwächter, vigilant) vom Fernsehen RTP
mit den sanften schwarzen Augen
- seine Frau ist Krankenschwester und knabbert schrecklich an den Nägeln,
- der Mann mit kindlich-offenem Mund, der immer bestätigend nickend
neben dem Reiseleiter steht und dessen Ausführungen mit reicher
Mimik und Gestik begleitet, kein Wort entgeht ihm,
- das goldene Ehepaar auf 50-jähriger Hochzeitsreise: er bewegt
sich wie eine ferngesteuerte Mumie, sie macht auf jung, will nicht alt
werden, braucht dauernd Augentropfen und pliert, statt eine Brille zu
tragen
- ein älterer Mann in devoter Haltung: "Die Fahrausweise bitte!",
den ich "Bahnwärter Thiel" nannte, bis Hagen einiges
herausgefragt hatte: Er ist wirklich Eisenbahnschaffner! - von Regua
bis Faro: "Die Fahrausweise bitte!"
- die beleidigte Ehefrau, die immer leidend zuhause im Hotel bleibt
- Warum macht sie eine solche Reise mit?? Heimlich raucht sie Zigaretten
und huscht scheu und neurotisch an der Wand lang.
- ein Paar auf Hochzeitsreise, er hat Schultern wie ein Hoftor. Ich
fragte, ob er Bodybuilding macht, da sagt die Braut: "Nein, er
isst so viel." Er sprach nicht ein Wort, bewegte sich kaum und
schmuste auch nicht, aber (fr)essen konnte er wirklich wie ein "Öhmdstier"
(würde Brigitta sagen).
- eine Lehrerin, fröhliche Schnatterente, singt mit dem netten
Herrn aus der letzten Bankreihe (seine Vorfahren seien Wikinger, nana!
Hägar, der Schreckliche, der Schwerenöter) zusammen Lieder
von Nordportugal und vinho verde. Die französische Dame erfuhr,
dass der Herr nicht ihr Gatte war, und meinte: "Ach, deshalb sind
Sie so fröhlich."
- Dessen Frau sitzt immer wie eine prallgefüllte Leberwurst mit
8 Goldringen, 4 Armbändern und 3 goldenen Ketten da, völlig
unbewegt, unbeweglich und ungerührt.
- der Mann, der mal einen Kopfschuss hatte und mit sehr ausgestellten
Füßen geht
- noch ein Pärchen, der junge Mann, blond und blauäugig, hat
eine deutsche Großmutter und den ersten Platz im Bus gepachtet,
seine Frau macht sich Zöpfchen und bleibt das liebe Kind in der
Begleitung der braven Mama und des fetten, pustenden Papas
- zwei vierzehnjährige Jungen, die wahnsinnig schnell wahnsinnig
viel essen können und bei der Busfahrt verbissen und halbverhungert
Nägel kauen.
Mit dieser Gruppe also begann die Besichtigung der Insel Terceira am
2. Tag der Reise. Ein schnell schwätzender, sehr patriotisch denkender
und höchst engagierter Führer übernahm die Reiseleitung
und fuhr mit uns auf den Monte Brazil, wo eine Festung an alte Zeiten,
Seeschlachten und Helden erinnert, schließlich heißt die Hauptstadt
"Angra do Heroismo". Der Leiter zeigte alte Seekarten, Kupferstiche
mit Flotten und Stadtanlagen, wies vom Aussichtsturm auf den herrlichen
Hafen und die Gebäude hin, "Weltkulturerbe", ließ
sich von seiner Begeisterung in schwindelnde Höhen tragen, redete
wie ein Maschinengewehr - naja, das kann man ja alles in den Büchern
nachlesen, dachte ich. Gefühl ist alles, die Zahlen versteh ich jetzt
nicht, aber das Lied von Hanns Dieter Hüsch passt:
Ich seh' ein Land mit neuen Bäumen.
Ich seh' ein Haus aus grünem Strauch.
Und einen Fluss mit flinken Fischen.
Und einen Himmel aus Hortensien seh ich auch.
Dann fuhren wir über das Land zur Nordseite der Insel, nach Biscoito,
wo aus porösen Lavafelsen (wie Biskuit!) natürliche Schwimmbassins
entstanden sind, in denen das klare warme Wasser sprudelt.
Besuch einer Kelterei und eines kleinen Heimatmuseums. Der Wein heißt
"Mein Cousin", und ist sicher der umwerfendste Cousin, den ich
kenne, süß und voll wie Sherry.
Milchkühe und Stiere auf den Weiden. Mäuerchen aus schwarzem
Basalt und dunkelbraunen Lavabrocken umgrenzen jedes Geviert, so dass
eine grüne Patchworkdecke aus Wiesen entsteht. Auch der Wein gedeiht
in solchen kleinen Mauereinfassungen. Die Reben liegen auf der schwarzen
Erde, 5 Pflanzen in einem Mauerviereck, wo sie regelrecht gekocht werden.
Die schwarzen Basaltmauern seien auch ein Schutz gegen die starken Winde,
Zyklonen, die sich hier von den 3 Kontinenten treffen (Eurasien, Afrik-
und Ameriko), und mit 180 km/h über die Inseln fegen.
Und nun die große Frage an den überaus klugen Terceira-Chauvi:
"Wie entsteht eigentlich das Azorenhoch?"
Also, er war so glücklich und beredt, als mache er selbst das Wetter
für ganz Europa, also, hier treffen sich diese Luftmassen (die Heiligen
3 Könige als Vertreter der damals bekannten Erdteile, nein, noch
aktueller: Gipfeltreffen mit Bush wegen Irak!!) und stimmen sich aufeinander
ab, werden zu einem wohltemperierten Windchen, und ausgeglichen strömt
ein Hochdruckgebiet östlich nach Euopa. Und wie er das sagte!! "Wir
machen das schöne Wetter für Europa!" Selbstbewusster und
stolzer kann niemand sein. Weiß nicht mal, wie dieser Azoreaner
hieß...
Der Mais sei hier so mickrig, hatten wir gesagt, denn in Carregosa sind
die Felder dunkelgrün und mannshoch. Das war ihnen zu negativ. "Der
wächst noch!" protestierten sie. Bei der Fahrt durch ein Dorf
sprangen sie auf und wiesen Hagen aufgeregt und begeistert auf das Feld
hin: "Olá, schauen Sie mal raus, wie hoch hier der Mais steht!"
Die Ehre Portugals war gerettet.
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
fest steht und treu der Mais am Rain.
Wir fuhren zu einem Freilichtmuseum "Quinta do Martelo", das
ist ein ganzes Dorf im alten traditionellen Stil angelegt, mit Töpferei
und Weberei, Schumacherei, Kaufmannsladen, Bauernhof, Gemüsegarten,
Wohnhäusern, niedrige Katen, mit Reet gedeckt, von blühenden
Kräutergärtchen umgeben, Yamwurzeln und Lilien, Zitronen und
Apfelsinen gibt es nicht auf diesen Inseln, überhaupt nicht...
In der urigen Kneipe gab es wunderbares Mittagessen in irdenen Töpfen
und Wein aus irdenen Bechern und auf handgewebten Decken: Aperitivo, Brot,
Kohlsuppe, Rindfleisch (cozido, à moda portuguesa), Milchreis und
Kaffee.
Danach fuhr man durch das Heidegebiet (wie in der Eifel) - Urze heißt
das Heidekraut, wird baumhoch - zu einem erloschenen Vulkan Algar do Carvão,
der durch einen Seitentunnel zugänglich gemacht wurde. Viele hundert
Meter steigt man ins Erdinnere hinab, ohne bis an die tiefste Stelle zu
gelangen, als stiege man in die Bauchhöhle der Erde. Wasser tropft
von den Wänden. Von irgendwoher kommen Klänge wie in einem tibetanischen
Kloster, dong - ping - om - om... Ganz oben die Öffnung des Kraterlochs:
ein Stück blauer Himmel ist über dem moosigen Rand zu sehen.
Da gibt es doch diese gruselige Geschichte von einem Studenten, der in
solche Höhle hineinsteigt und nie wieder hinauskommt, weil die Wände
sich über ihm wölben und zuspitzen: "Lass dich doch einmal
hinauf", absolut schaurig.
Dann besser die Erinnerung an den Mann, der sich mit seiner Flöte
in die Cheops-Pyramide einschließen ließ und dort eine Nacht
lang dem Hall der Töne lauschte. Die Kassette hat Hella: Im Innern
der großen Pyramide.
Viel erfahren wir über die Bruderschaften des Heiligen Geistes (Irmandades
de Santo Espírito), die ihre hübschen bunt bemalten "Impérios",
kleine Glaskapellen, neben den Hauptkirchen errichtet haben. Diese Irmandades
oder Kirchenvorstände übernehmen die soziale Tätigkeit,
kümmern sich um die Armen und sorgen für deren Auskommen. Das
Fest des Sto. Espírito feierten wir dann am Sonntag in S. Miguel
mit.
Terceira ist mit seinen vielen Kirchen und Kapellen, Heiligen und Wundertätern
tatsächlich eine "Religiöse Insel", a Ilha Religiosa.
Dazu immer wieder die Blumenpracht, blaue und weiße Hortensienhecken
mit Röschen, aber auch rosa Hortensien, die Rainer Maria - gottseidank!
- auch bedichtet hat:
Rosa Hortensie
Wer nahm das Rosa an? Wer wusste auch,
dass es sich sammelte in diesen Dolden?
Wie Dinge unter Gold, die sich entgolden,
entröten sie sich sanft, wie im Gebrauch.
Dass sie für solches Rosa nichts verlangen.
Bleibt es für sie und lächelt aus der Luft?
Sind Engel da, es zärtlich zu empfangen,
wenn es vergeht, großmütig wie ein Duft?
Oder vielleicht auch geben sie es preis,
damit es nie erführe vom Verblühn.
Doch unter diesem Rosa hat ein Grün
gehorcht, das jetzt verwelkt und alles weiß.
Abends im Hotel findet ein Folklore-Abend statt: 2 Gitarren und 3 Sänger.
"Gosto muito dos teus olhos negros", singen sie, und unsere
Dona Graça judert im höchsten Sopran mit. Die Inselbewohner
sind scheinbar eine Mischung aus allen Seefahrern der Welt, die hier je
vor Anker gingen: schwarz, klein, rund oder groß, knochig, blauäugig.
Das war erst der 2. Tag, und wir sind schon so erfüllt und voller
Eindrücke, dass es kaum noch erträglich ist. Der Film ist voll,
die Diafilme verknipst, und wir kriegen keine neuen. Ist doch fast eine
Metapher. Der Film ist voll...
Fortsetzung folgt
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