AZOREN-TAGEBUCH    DIÁRIO AÇORIANO

  Barbara Seuffert © 2004

 

 

1.

Wenn wir eine Reise machen wollen, sind vorher immer gewaltige Planungen nötig, weil wir jemand suchen, der auf den Hund aufpasst, (nicht etwa dieser auf andere). Ich meine mit aufpassen: füttern und ausführen und ein wenig Zuwendung, weil das ja ein "Menschenhund" ist.
Seit vielen Jahren nimmt Hella diese Vertrauensstellung ein. Sie kennt sich mit dem Hund seit Anfang an aus ("Schnullihund"), hatte ihn sogar schon während der Amerikareise einige Zeit in Pflege, und sie kennt sich auch seit 1996 mit und in Carregosa aus - und dem Weg dahin sowieso.
Aber Hella ist eine vierköpfige Mutter mit großer Familie und hat da gewisse Prioritäten zu berücksichtigen - genau wie wir, und so wird jedes Unternehmen ein Logistikproblem.
Diesmal nun also fuhr sie mit Tochter Julia an derem 2. Urlaubstag nach Portugal, ließ sich kurz in die Vertretung einweisen und brachte uns am Montagmorgen zum Lissabonner Flughafen, wo spontanerweise Julias Freund Tobias aus Witten gerade angekommen war, so dass im Frachtgutverkehr dank dieses Güteraustausches alles reibungslos weiterlaufen konnte.

Montag, der 5. Juli, war der "Morgen danach", der Morgen nach der Niederlage der Portugiesen im Fußballfinale gegen die Griechen. Das war sicher unser Glück, denn sonst hätten wir bestimmt auch die ganze Nacht durch gefeiert und wären gar nicht durch die Menschenmenge und auf den verstopften Wegen vorangekommen. So standen nur auf den Raststätten ein paar Autos mit schlafenden Fans herum, manche Flagge war auch schon eingezogen worden. Die Begeisterung war ziemlich abgeebbt im größten Fußball - Stadium Europas, " Stadium", wohlgemerkt. Die "Kicker"-Zeitungen hatten an diesem Morgen große Fotos von Ronaldos tränenblanken Augen und Überschriften wie "Weine nicht, Kleiner!"

Der Lissabonner Aeroporto quoll aus allen Nähten. Die blauweißen Hellenen wurden tolerant und verständnisvoll verabschiedet, alle fuhren und flogen nach Hause, und wir hatten uns eingebildet, auf die Azoren fliegen wir ganz allein mit so einem kleinen Inselhopper... Haha, der erste Irrtum! Irgendwie schien ganz Portugal mit diesem Jumbojet auf die Azoren zu wollen.

Die Portugiesen reisen kaum noch ins Ausland, hatte eine Statistik verkündet. Also reisen sie in ihrem eigenen Land herum, und deswegen wohl auch in Massen auf die Azoren.

Der Flug dauerte 2 Stunden, 1.400 km westlich, "schon fast" in Amerika, die Uhr wurde 1 Stunde zurückgestellt.

Wir (sonst immer) Individualreisenden dachten, wir müssen uns bei der Ankunft in Ponta Delgada/São Miguel um die Koffer kümmern, und standen lange am Fließband herum, bis uns einfiel, die Koffer könnten ja schon weitergeleitet sein nach Terceira, wohin wir heute Abend noch weiterfliegen würden. Die Gruppe mit Dona Graça Ribeiro wartete schon oder noch an der Absperrung.

Dona G. hat eine Porzellanpuppengesicht und wirkt wie eine Schweizerin. Der erste Eindruck auch von der Insel war ebenfalls derselbe: Sind wir hier in der Schweiz? Alles sauber und aufgeräumt, schön klein karierte aufgeräumte Weideflächen und schwarzweiße Milchkühe darauf. "Hier liegt kein lixo und kein nada herum", erklärte die Reiseleiterin. Tja, es fiel allen auf. Eine wunderschöne grüne Insel mitten im Ozean, grüne Wiesen, Wälder mit Japan-Zedern und immer wieder blaue Hortensien, die Dolden und die Tellerhortensien.

Der Reisebus mit 45 staunenden Portugiesen aus Porto und Lisboa schaukelte über die westliche hügelige Hälfte der Insel São Miguel nach Sete Cidades und dem Blauen und Grünen See. Der grüne See ist allerdings weiß, denn die grünen Algen blühen gerade. Immer wieder darf man aussteigen und fotografieren, ein verlassenes Hotel auf dem Berg, ein tiefer Märchensee im Krater der vulkanischen Berge, weidende Kühe und blaue Hortensien, blaue Hecken, in denen dicke rosa Bauernröschen blühen, Wiesen, Wiesen und runde Vulkanberge mit einer Rechenkästchenstruktur aus Hortensienhecken, Rilkes "Verwaschene Kinderschürzen"

Rainer Maria Rilke
Blaue Hortensie

So wie das letzte Grün in Farbentiegeln
sind diese Blätter, trocken, stumpf und rauh,
hinter den Blütendolden, die ein Blau
nicht auf sich tragen, nur von ferne spiegeln.

Sie spiegeln es verweint und ungenau,
als wollten sie es wiederum verlieren,
und wie in alten blauen Briefpapieren
ist Gelb in ihnen, Violett und Grau;

Verwaschnes wie an einer Kinderschürze,
Nichtmehrgetragnes, dem nichts mehr geschieht:
wie fühlt man eines kleinen Lebens Kürze.

Doch plötzlich scheint das Blau sich zu verneuen
in einer von den Dolden, und man sieht
ein rührend Blaues sich vor Grünem freuen.

Ein altes Ehepaar, 80 oder älter, er dick und gemütlich, blaue Mütze, grün gestreiftes T-Shirt, braun gebrannt, krumme Säbelbeine - sie, skurril-senil mit wirren grauen Haaren, in Hosen und Strickjacke, barfuß in Lackpantöffelchen und mit Handtasche überm Arm, trippelt immer hinter ihm her.
Die Reiseleiterin erzählt von Sete Ciadades, um das sich viele Legenden ranken. Bei dem Stichwort "Legende" fängt die Alte zu singen an. Sie singt einen Fado und tuschelt verschwörerisch: "Mein Mann mag nicht, wenn ich singe, er sagt, ich sei verrückt. Er ist selbst verrückt." Er kommt in unsere Nähe und sie singt lauter und sagt: "Da sehen Sie es, er kann das nicht leiden!" Die beiden bieten auch weiterhin noch viel Anlass zum Wundern...

Auf den Wiesen 10-20 Kühe und meistens 1 Pferd dabei. Dona G. erzählt von Milchwirtschaft, Molkereien, großen Käsefabriken, von Milchproduktion und Fettgehalt der Milch, der vom Maisfüttern kommt.
Die Häuser und Kirchen sind weiß gestrichen, Fenster und Türen haben schwarzgraue Umrahmungen, da sieht man das Basaltgestein. Überall diese poröse Lava wie bei Hydrokultur, wir leben auf dem Vulkan.
In der kleinen Ortschaft Sete Cidadades bricht Hagens Begeisterung für die Dachziegel voll durch, Die Dächer sind eigenartig gedeckt (Mönch und Nonne) und hübsch verziert am Rand. Wenn es nicht verboten wäre, würden wir sofort einen Stapel Dachziegel abräumen und damit 1 Woche durch die Gegend fahren.

17.45 Uhr sind wir wieder auf dem Flughafen und fliegen nach Terceira. 30 Minuten Flug. Dort wartet ein Vier-Sterne-Hotel auf uns und ein gepflegtes Abendessen.
Keiner redet mehr über Fußball. So sind sie, haben die Griechen großzügig bewirtet und eingeladen, sich mit ihnen "fröhlich gemischt" (wie die Zeitungen berichten) und den Sieg gefeiert. Aber ich muss immer an das enttäuschte Kindergesicht von Ronaldo denken.

Terceira sieht genauso aus wie São Miguel, grüne Rechenkästchen-Wiesen mit Hortensienhecken. Wir waschen uns die Hände und werden in den Speisesaal geführt, edle Gläser und Damastservietten und ein 4-Gänge-Menü vom feinsten. Und der Blick aufs Meer. An unserem Tisch diniert ein älteres Ehepaar aus Vigo und Paris, sie sprechen französisch und spanisch und verstehen kaum portugiesisch. Er war Spanischlehrer, kann sogar etwas deutsch: "In München steht ein Hofbräuhaus...", sie war Französischlehrerin. Meine hochgespannten Erwartungen werden ziemlich schnell enttäuscht und zerfallen zu Staub und Asche, auch als Monsieur sich als Protestant outet und anstimmt: "Ein feste Burg ist unser Gott..."

Am Abend standen wir auf dem Balkon, eine laue Sommernacht, ich kann es nicht fassen, dass die Welt so schön ist und wir das alles sehen dürfen.

Fortsetzung folgt

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